Der tastende Schläfer
Georges Latours
 
Transkription eines fragmentarischen, maschinengeschriebenen Textes von Georges Latours, wahrscheinlich für oder über Mia Moren geschrieben.
(Nachlaß Benjedid, ca. 1948.)
  
                              
 
 
 
                            Der tastende Schläfer
 
                        
Flüssig verhangen in meinem Fiebertraum, fahren meine schwärigen Hände über den Körper, der rollt und krängt unter meiner Berührung. Ein schönes Missverständnis gluckst aus ihrem Hals, während sie lockend ihre Düfte in meine Richtung lenkt. Kaum, dass ich Zeit hatte, meine Säfte in einen Strom zu fügen, schon hatte sie sich wieder aufgerichtet und lachte wie eine Glocke, deren Strang einmal zuviel gezogen wurde. Entweihung. Wie schön sie war in ihrer Gier, wie hässlich in ihrer Befriedigung, die doch nicht von Dauer ist. So fein ihre Nackenhaare auch im Licht glänzten, so stumpf war die Oberfläche ihres Verlangens, das - nun erloschen - mich allein liess mit meiner Trauer. Zurückfallend in einen Schlaf, der mehr Krampf war als Ruhe, trennte mich eine milchige Membran von meinen Träumen. Nichts gehörte noch mir, ausser dem faserigen Geschmack auf meiner Zunge, die träge an meinem Gaumen klebte. Ich erwachte, und die Zeugin war verschwunden, die hätte erzählen können, von der Ungeduld, die wir kurz zuvor noch geteilt hatten. Die schöne Zeugin, die nichts anderes sein wollte, als nur Betrachterin, denn dass war der Zustand, aus dem sie ihre Kraft schöpfte: nie beteiligt sein, aber sich trotzdem labend. Grell schrie mir die Sonne ins Gesicht, und in mir wühlte ein lachhafter Zyklon, der schnell zu einem traurigen Lüftchen wurde. Herab prasselten kleine Stücke ihres Duftes, ihres Gestanks, der mich wie ein Pesthauch umfing, mich einhüllte in einen Kokon aus vergeblichen Anstrengungen. Angefangen und nicht vollendet war mein Schlaf, aus dem ich in trüber Gleichgültigkeit erwachte. Winden musste ich mich, wie eine verletzte Schlange, um den Fängen ihrer traurigen Hingabe zu entkommen. Kein Fetzen war da, an dem mich festklammern konnte, kein Stöhnen oder Schrei, der mir zeigte, dass etwas geschehen war. Aus einem Traum erwachte ich in einen Traum, der noch viel komplizierter war, als alles was ich vorher zu denken gewagt hatte. Ich zog mich an und trat auf die Strasse, fühlte mich trotz des Mantels und des Anzuges nackt. Jeder konnte mich sehen; durchschauen. Niemand drehte sich jedoch nach mir um. Die Pflastersteine glänzten mich morgendlich obszön an, als wenn sie sagen wollten, dass ihr Schein sie über mich erhebt, auch wenn ich sie mit Füssen trete. Hunde verrichteten ihr Geschäft mit wichtiger Miene, genau wie die Postboten das ihre verrichteten. Ich ging die Strasse herunter, auf den Boden starrend und Lachen anlächelnd, die der Regen der Nacht achtlos hatte liegenlassen. Kein Ziel hatte ich, als ich die Gassen (nur die engsten) durchstreifte und versuchte, eine Melodie zu pfeifen, die ich nicht kannte. Mit erschreckender Würdelosigkeit kaufte ich eine Zeitung an einem baufälligen Verkaufsstand, der Schutz suchte unter einer verkrüppelten Weide.
Die Buchstaben kreischten mir entgehen, aber es war nur zusammenhangloses Gestammel, sinnlose Laute, die sich in meinem Kopf zu klebrigen Haufen formten. Wenn ich in dieser Zeitung lese, nachdem ich mich an einem filigranen Kaffeehaustischchen niedergelassen habe, werde ich nichts verstehen und mich nur wundern, was für seltsame Menschen der Mühe nicht scheuen, jeden Tag diese savagen Weiten an Druckerschwärze hervorzubringen. Es war beruhigend zu wissen, dass es Menschen gab, die sich für solche Aufgaben begeistern konnten. Das war der Grund weswegen ich Interesse vorschützend die Zeitung aufschlug, als ich mich an einem der Tische niederliess, die den Weg zur Toilette des Kaffeehauses versperrten. Ich bestellte viel Kaffee, den ich aber achtlos beiseite schob, nachdem er seine Funktion als Hierseinsberechtigung für den wissend dreinblickenden Kellner verloren hatte. Die Geheimnisse der Maserung der Tischplatte würden mir auf ewig verschlossen bleiben, egal welches noch so hermetisches System der Wahrsagerei ich auch darauf applizieren mochte. Aber es verschaffte mir tiefe Befriedigung, zu wissen, dass der Kellner nichtmal über die Möglichkeit nachdachte, dass Tischplatten Aussagekraft haben könnten über die Fügungen des Schicksals. Ich freute mich eine Weile an meinen schäbigen, kleinen Überordnungsphantasien. Sie waren die einzige Art der Unterhaltung, die ich mir leisten konnte. Aus meinen Gedanken riss mich die schneidende Stimme Gorringers, dessen Bitte um eine Anleihe ich aber schnell und bestimmt abwehrte. Gorringer stützte sich herausfordernd auf eine Stuhllehne, die sich ihm fordernd entgegenwölbte. Die meisten Dinge, die feminin waren, selbst nur aufgrund ihrer Pronomina, wölbten sich Gorringer auf die eine oder andere Art und Weise entgegen. Seine Zigarette drückte Gorringer aus, indem er die Glut abbrach, und den toten Stummel in den Aschenbecher fallen liess, während die Glut weiter munter vor sich hinqualmte. Ich goss einen der Kaffees in den Aschenbecher, und Gorringer verstand den Wink, da er sich eilends aus dem Lokal entfernte. Und da stand sie. Ich hatte von ihr geträumt. Ich hatte sie in meinen Träumen gehasst, benutzt, aber auch geliebt, nur dass sie all das immer verstanden zu haben schien, weshalb mein Hass und die schlechte Behandlung ihrer Person durch mich an ihr abglitt wie Wasser an einem gewachsten Schwan. Gegen eine Säule in der Mitte des Raumes gelehnt, rauchte sie auf unverschämt graziöse Art eine dünne Zigarette, ihre Augen halb geschlossen, aber doch einen gezielten Blick verratend. Sie sah mich an. Sie kannte mich, so wie ich sie kannte - sie schlief und wachte zugleich, und in ihren Träumen begegnete sie Wesen, die sie nicht erfunden hatte, weil es sie schon gab in dem Traum, den wir alle träumen. Sie ging langsam auf mich zu, kühl einen Fuss vor den anderen setzend, niemals ihre Augenschlitze von mir abwendend. Keine Schauer durchfuhren mich, sondern nur die ruhige Gewissheit, dass wir uns nicht zum ersten Mal begegneten. Ich wusste, dass ich mich würde schützen müssen vor ihrer gleichgültigen Gier, die unerschöpflich und mit interessenloser Majestät jeden ihrer Schritte lenkte. Sie war alles, was ich wusste, in einem Wesen zusammengefasst: nichts was ganz war, konnte sie erregen, nur die Risse im Zerbrochenen - was dazwischen  war -  konnte sie aus ihrer trägen Verachtung wecken. Kaum dass sie sich hingesetzt hatte, begann der Wettstreit. Keiner von uns brauchte sich dem anderen vorzustellen - nichteinmal die Namen mussten wir einander sagen, denn dass hätte schon eine Form der Endgültigkeit bedeutet, auf die wir beide keinen Wert legten. Ungeduldig bestellte sie bei dem Kellner einen Cognac, liess diesen aber sofort zurückgehen, da er ihr in einem angewärmten Glass serviert wurde. Der Kellner rollte nicht sehr galant mit den Augen, kam aber Sekunden später mit einem neuen Glass. Ich starrte ihren Mund an, als sie das Glass an die Lippen setzte, und fast erwartete ich, dass sie es zerbeissen würde. Langsam verschwand die braune Flüssigkeit zwischen ihren Lippenwülsten, und nur ein trauriger Rand von ihrem Lippenstift war Zeuge des Vorfalls. Sie lächelte, als sie das Glass wieder abstellte, aber, wie mir schien, an mir vorbei; ins Leere hinter mir. Ich war eifersüchtig auf das Leere und wollte gerade anfangen, eine Methode zu ersinnen, wie ich mich an ihm rächen konnte, als sie sprach. Ihre Stimme war kein Singsang, kein rauchiges Stöhnen, kein sinnliches Hauchen. Nein, ihre Stimme fiel flach vor mir auf den Tisch und robbte sich an den Kaffeetassen, dem kaffeegefüllten Aschenbecher und dem leeren Cognacglass an mich heran. Unendliche Gleichgültigkeit und Langweile in den mühsam zusammengeknoteten Silben, die auf mich eindrangen. Ach, ich hätte gern gehabt, dass sie auf mich eindrängten, aber sie krochen nur langsam an mir hoch wie träge Rankenpflanzen. Ich versuchte mir einzubilden, dass sie mich aufforderte mit ihr zu gehen, aber es gelang mir nicht. Stattdessen musste ich widerwillig hören, wie sie mir alle Verantwortung zuschob. Jetzt war ich es, der ihre Trägheit überwinden musste. Ich war es, der in ihre schaumigen Träume eindringen musste, wenn ich denn wollte, dass wir beide den gleichen Traum träumen. Allein dafür hasste ich sie schon; allein dafür wollte ich sie schlagen, bis sie Blut spie; bis sie sich vor mir wälzte und entweder um mehr oder um Gnade flehte. Ich betrachtete den Hutständer, der hinter ihr stand. Irgendein Mensch hatte diesen Hutständer gemacht, soviel stand fest. Hände auf Holz; Werkzeug auf Holz. Das schöne war, dass keinerlei Verbindung bestand, zwischen meinem Verlangen für diese Frau und dem Hutständer. Doch sie puderte sich. Wahrhaftig, sie puderte sich. Sie hielt einen kleinen Schminkspiegel vor sich hin, und puderte sich. Wie durch den Rückspiegel eines Automobils warf sie dabei Blicke auf eine Gruppe von jungen Männern, die an einem benachbarten Tisch sassen. Ich nahm ihr den Schminkspiegel weg und legte ihn auf den Tisch. Sie lächelte wieder hinter mir ins Leere. Dann stand sie auf. Ihren Rock glättend, verharrte sie einen Moment vor mir.
Sie glättete die Falten unseres kurzen Augenblickes zusammen. Es war wieder alles wie vorher. Wie ein Blinder hatte ich umhergetastet, und den Moment der Berührung zwischen uns vergehen lassen. Jetzt wurde ich bestraft. Ich dachte an meine Mutter. Sie bügelte immer meine Taschentücher. Ich zog ein zerknülltes Taschentuch hervor, und wischte einen imaginären Fleck von ihrem linken Schuh. Sie drehte sich um und schnürte wie eine vollgefressene Katze aus dem Cafe. Ich wusste, dass ich unsere nächste Begegnung dem Zufall überlassen musste, wenn sie denn einen Wert haben sollte. Ich wusste aber auch, dass man den Zufall nicht dem Zufall überlassen konnte, weil dann meistens etwas passiert, was man beabsichtigt, wirklich beabsichtigt. Es ist zum grossen Teil sehr ernüchternd zu erfahren, was man wirklich beabsichtigt. Ich blieb an meinem Tisch sitzen und kam mir vor, als wenn ich eine heissumkämpfte Sappe zu verteidigen hätte, eigentlich aber doch lieber den Schandfetzen hissen und mich ergeben wollte. Ich tat so, als würde ich ein Gedicht schreiben, das heisst, ich schrieb wirklich eins, aber es diente nur der Ablenkung von ihr: „Oerlikon. Mit Schrei auf den Lippen zerplatzt der Maat auf der einen wie auf der anderen Seite. Zerlöcherte Hüllen der Möwen Frass. Präzise geschlachtet von Kaliber 2,2.“ Ich stand auf und setzte den Bemühungen des Kellners, die Zeche zu kassieren, nur matten Widerstand entgegen. Auf der Strasse begutachtete ich eine fett grinsende Sonne. Schön langsam, einen Fuss vor den anderen. Dann schneller. In welche Richtung war sie geschlichen? Zum See hinunter! Jetzt konnte ich ruhig sein. Ich würde sie auf einer der Bänke sitzend finden, unter den Weiden auf der Promenade. Passend. Ich nahm die kleinen Strassen zum See herunter. Ihre schlauchartigen Windungen gaben mir ein sicheres Tunnelgefühl, und ich musste keine Sorge haben, am Ende des Tunnels am falschen Ort ausgespien zu werden. Die erste Bank war besetzt von einer alten Frau die ein besonderes Verhältnis zu ihrem Pudel zu haben schien, den sie auf ihrem Schoss hielt und liebkoste, wie einen Sohn, der sich nie von ihr hatte losreissen können. Auf der nächsten Bank sass sie dann. Sie schaute kurz auf, aber in ihrem Gesicht waren keine Anzeichen für ein Erkennen meiner Person zu sehen.
Sie wandte ihren Kopf von mir ab und starrte die Promenade hinunter. Ich setzte mich neben sie, nahm ihre Hand in die meine, was sie einfach geschehen liess. Ich schaute auf den See und begann in tonloser Stimme von dem Traum zu erzählen, den ich heute Morgen vor dem Erwachen gehabt und in dem sie die Hauptrolle gespielt hatte. Ich schilderte ihr jede Einzelheit, jede Bewegung und jeden Laut, den wir beiden zusammen gemacht hatten. Dann sah sie mich an, und ihr Blick liess mich aufwachen. Ich wälzte mich aus dem Bett und urinierte in das kleine Waschbecken, dass in meinem Zimmer an einem gekachelten Wandstück hing, da ich zu träge war, um den weiten Weg über den Flur zum Wasserklosett zu gehen. Es klopfte an der Tür, und ich verbarg so gut es ging meine halb aufgerichtete Rute und streifte meinen Morgenmantel über. Meine Haushälterin brachte einen Brief. »Treffen sie mich am See ,wann sie wollen. Nur gehen sie mir nicht mehr nach.« Gottseidank keine Unterschrift.