Die hundert Waisen
Moritz von Bamselle
 
Transkription eines Textes, den Moritz v. Bamsell (laut Tagebucheintragung vom April 1947) auf dem Züricher Bahnhofsplatz zum Vortrag gebracht hat.
(Nachlaß Preiser.)
 
 
 
Die hundert Waisen
 
(Eine somnatistische Theorie des Sich-davonmachens.)
 
 
 
Hörst Du? Siehst Du? Ich spreche zu Dir. Jetzt. Meine Stimme füllt dich aus und was Du bist, ist verschwunden. Wo ist es jetzt? Das ist jetzt. Du trittst zurück, gehst weiter und in der Isolation des Ichs kreisen Deine Gedanken, um das, was Dir begegnet ist. Eben noch warst Du verschränkt mit mir, meinen Worten, Bildern, meiner Welt meinen Gedanken. Ist das meine Absicht? Zwei Pole: Isolation versus Verschränkung mit dem Seienden.
 
Nichts hinterlassen. Über den Schnee gehen und keine Spur hinterlassen ist das einfältige Bild, das sich formt, wenn ich sage: Keine Spur hinterlassen. Das richtige Bild ist keines: die Dinge, die absichtslos geschehen, hinterlassen Spuren, aber Ihre Absicht ist es nicht, nach dem Ereignis weiterzuwirken. Ihre Absicht war nur das Tun im Moment des Tuns. Ihre Absicht ist keine, und erst recht nicht die Absicht, Spuren zu hinterlassen. „Warum schreibst Du dann wohl diesen Text?“, fragt der Sophist. Ich antworte: „Weil es das ist, was ich tue.“
 
Ich beschreibe das Nichts mit einem Tun. Das ist paradox. Die einzige Möglichkeit, dem Nichts zu begegnen, ist, zu tun. Oder regungslos zu verharren. Konsequent wäre es, sich nicht mehr zu bewegen und dem eigenen Verwesen zuzuschauen. „Konsequenz“ ist ein Wort, das innig an die Brust gedrückt wird von den Hohepriestern des Nutzens und ihrer positivistischen Liturgie. „Konsequenz“ ist auch ein Wort, das der selbsternannte Künstler als Monstranz seiner Not vor sich herträgt. Der Wahn des Nutzens und der Wahn der Autarkie sind jedoch nur gut geölte Selbtvergewisserungsmaschinen.
 
Die tausend Strategien, um das Nichts vergessen zu machen; sie nutzen, dabei aber um sie wissen, das wäre Humor. Aber: es ist wahnhaft, zu glauben, der Wiederholung trotzen zu können – womöglich noch durch Originalität, welche doch nur die Zuflucht der Talentlosen ist. Auf der anderen Seite des Pendelausschlags ist es der Wahn zu glauben, daß man dem zweiten Satz der Thermodynamik trotzen kann - durch allumfassende Ordnung. (Ein anderes Wort dafür ist: Totalitarismus.) Beides gebiert in ihrer Einfältigkeit nichts als Grausamkeit, die alles überformt mit ihren Rechtfertigungen. Auch das sind Strategien, um das Nichts vergessen zu machen. Es sind die schlechtesten aber populärsten.
 
Der Wahn unserer eigenen Macht. Das Delirium der Authentizität und der Autorenschaft, der Selbsteinschreibung, sucht nicht nur das originäre Ding, es behauptet einen Schöpfungsvorgang. Ein herzzerreißendes Mißverständnis. Ein Kind steht hypnotisiert vor einem Feuer und weiß noch nicht wie heiß es ist. Es träumt ihm, daß es einen Ball aus dem Feuer machen kann und ihn wirft. Der Feuerschweif wird ein großes, schönes Licht auf ihn werfen. Es gibt viel Beifall. Daß ihm die Haut in Fetzen abfallen wird, wenn es damit in Berührung kommt, ist das eine. Kaum jemand kommt jedoch damit in Berührung. Der Traum des Schöpfers der Feuerkugel wird von allen mitgeträumt. Und von den Brandwunden gibt es Heilung. Die tausend Strategien. Man wird das Feuer meiden, das ist das andere.
 
Ein anderer Züricher schrieb vor tausend Jahren, auf den Trümmern einer anderen Wiederholung sitzend: „Das gnostische Werk, als erhabener Bruch mit der eigenen Macht, ist die Spur des Heimwehs nach dem, was Werke übersteigt.“ Der Mann hatte recht. Auch wenn er nur ein Provokateur war und dann die Provokation schlicht und einfach zu guten Preisen an die (sich gut unterhalten fühlenden) Provozierten verkaufte.
 
Eigentlich sagt Hugo Ball nichts anderes als wir auch: Man kann das Unsagbare, das Unfaßbare nicht schöpfen, schaffen, herstellen; man kann nur die Bedingungen schaffen für sein unvermitteltes Aufauchen aus dem Raunen der Unschärfen dieser Bedingungen. Dort wo diskursive Vernunft und innere Erfahrung (ja, die!) aufeinandertreffen, entstehen unscharfe Ränder. Dort tritt das Licht der Welt hervor. Oder ein kurzer Schauer. Oder eine Spielart des Numinosen. Oder etwas, was sogar ein Welterklärer vom Schlage Wittgensteins sich traute, auszusprechen, weil er - das wußte er - ein Lügner gewesen wäre, es totzuschweigen: das „Mystische“ worüber man „nicht reden kann“, das sich aber trotzdem „zeigt“. Mit diesen dürren Worten hat der Mann wissentlich, allerdings ohne es je zuzugeben, seine Philosophie unter Vorbehalt gestellt.
 
Und wie kann man machen, daß sie sich zeigt, diese Qualität, die das Verderben des „Tractatus“ ist? Mit Kunst. Es ist ein elendes Wort. Aber es beschreibt eine im System der Nutzen und Autarkien völlig sinnlose Sache, die die Kraft hat, Verabredungen mit der nackten Existenz zu treffen um sie absichtlich nicht einzuhalten. Eine verfehlte Verabredung: das, was da sein sollte, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, ist nicht da. Was ist dann da? Was da ist, ist das Versprengte, das Flüchtige, das in unseren Augen (die wir in diesem Moment nicht zum Plan gehören) Zufällige. Wenn wir irgendwo hingehen, ohne etwas zu erwarten, sind wir plötzlich Sehende. Und wir sind so leicht, daß wir davongeweht werden von jedem noch winzigen Lufthauch des – Seins. (Verzeihung.)
 
Man muß die großen Wörter aushalten können. Sie sind die einzigen, die wir haben. Wenn Sie sich über die großen Wörter entrüsten, wenn Sie ihren Gebrauch als Kränkung empfinden, dann gehen Sie bitte weiter. (Über das Originelle habe ich oben bereits alles gesagt. Sie werden es hier nicht finden. Ebensowenig finden Sie hier Urteile über die tausend Strategien das Nichts vergessen zu machen.)
 
Im übrigen hatte Pound recht, als er sagte, daß Verstand und Bildung nicht unbedingt den Verlust an künstlerischer Gestaltungskraft einschließen muß. Was das bedeutet? Wahrscheinlich dies: Sich zur Dummheit bescheiden ist eine perfide Strategie, die herangezogen wird, um das eigene Unvermögen mit eben dieser Bescheidenheit zu bemänteln und moralisch zu Überhöhen.
 
Details allein sind dumm. Sie sind nur Kunstgewerbe, vielleicht gutes Handwerk. Auf der anderen Seite: die Gestalt allein ist nur formale Geste oder Dekoration und bleibt auf ewig Entwurf. Wer sagt, er will mit Fragment und Entwurf provozieren oder etwas in Bewegung bringen (Ah! Der „Erste Beweger“...), hofft auf den zufälligen Lorbeer des Idioten.
 
Erst dort, wo aus dem Chaos die Gestalt aufsteigt, oder umgekehrt: wo die Gestalt plötzlich Sicht freigibt auf ein ins Unendliche sich auflösendes Chaos an Details, da ist die unscharfe Grenzlinie, der Lapsus, dort gibt es keine Wiederholung und keine sanktionierte Möglichkeit der Beschreibung, dort ist nur noch das Ereignis und sein Zeuge.
 
Manchmal passiert dann das Ungeheure und wir begreifen - wie schlaftrunken und gerade erwacht -, daß erst mit uns das Sein die Augen aufschlägt und sich selbst schaut. Das sich selbst denkende Absolute. Ist das zuviel verlangt? Ist das zuviel hineingestopft in so etwas harmloses wie ein Gedicht oder ein Bild oder in einen Film?
 
Aber was reden Sie denn da?! Man kann diese Dinge gar nicht ernst genug nehmen. So ernst, daß man als jemand, der sich selbst sehr ernst nimmt, keine Möglichkeit mehr hat, noch genügend Ernst für diese ungeheuer ernste Sache aufzubringen. Die einzige Lösung ist: man darf sich auf keinen Fall ernst nehmen.
 
Die Somnatisten halten Werke nicht für wichtig. Nur das, was sie mit einem anrichten. Aber sie signieren ihre Werke. Oder sie schreiben ihre Namen darunter. Auch das ist paradox. Aber über die „Konsequenz“ und ihre Dummheit ist genug geredet worden. Doch ist die Frage berechtigt: „Wieso schreibt ein Somnatist seinen Namen unter ein Werk?“ Die Antwort ist einfach: Die Unterschrift eines Somnatisten ist nichts wert, aber er/sie unterschreibt trotzdem, denn das ist Teil des Rituals, der Verabredung. Das unterzeichnete (gezeichnete!) Werk aber, verschwindet. Es wird nicht konserviert, gekauft oder benutzt werden. Es wird verwehen, mit unserem Namen darauf. Aber man gibt zu: Man war ein Mensch.
 
Der Name meines Freundes Georges Latours auf einem Werk oder unter einem seiner Gedichte sagt: Latours. Aber wer ist schon Latours? Wenn seine Unterschrift keinen Wert hat, ist es nichtmal eine subversive Geste, die Unterschrift wegzulassen. Also unterschreibt er, weil er das getan hat, was dort unterschrieben wird. Er schreibt sich in den eigenen Text ein. Er gibt zu, daß dieser Text in formte. Und er wird mit ihm verschwinden.
 
Wäre die Unterschrift etwas wert, stünde man einem Kadaver gegenüber. Der Gestank, den der Kadaver verströmt, ist das Werk, was zersetzt wird von den Mikroben der Autorenschaft. (Nein, nicht das Werk als Ware, als Reiz, sondern das Werk als Möglichkeit, etwas unsagbares, etwas unfaßbares ausdrücken zu können.)
 
Das ist ein furchtbares Dilemma. Aber es ist einfach zu umgehen. Man tut etwas, bringt etwas hervor und geht dann davon. Was zurückbleibt, ist souverän, unbelästigt vom Begehren des Künstlers. (Künstler sind ohnehin nur der Bodensatz ihrer Werke.) Man zeugt hundert Waisen. Oder tausend. Oder nur eine. Aber: man muß verschwinden, sich davonmachen.
 
Moritz von Bamsell, Zürich 1947