Die Segel setzen
Georges Latours
 
 
Transkription eines Textes aus den handschriftlichen Kladden von Georges Latours.
(Nachlaß Benjedid. 1947.)
 
 
 
 
Die Segel setzen
 
 
 
 
 SIEG
 
Dem süssen Scheitern
Dem süssen Scheitern entgegen
Reckt sich meine Seele
Dem süssen Scheitern entgegen
Das uns leben lässt
 
 
 
„Furchtbarem Scheitern entgegen hißt meine Seele die Segel,“ sagte T.E. Lawrence und machte sich auf den Weg. Die lieblosen Wüsten zu durchqueren, sie genau kennenzulernen, um bereit zu sein für neue Wiedergeburten. Man muß lernen, der Welt eine Bühne zu bereiten mit der eigenen Gelassenheit. Ihren Reichtum und ihre Rätselhaftigkeit zum Freund nehmen, indem wir den Freund nicht ständig befragen, sondern ihn neben uns sein lassen.
 
In unendlich langen, kalten Nächten, in denen unsere Blicke Löcher in die Dunkelheit brennen, sich beibringen, zu hören. Die eigene Stimme als eigene Stimme hören, die Nuancen unterscheiden können in dem Raunen, das unablässig um uns  herum aufsteigt und wissen: das ist kein Irrsinn, das ist die eigentliche Welt.
 
Vom Zweifel als einzigem bis zum Verschwinden in den zehntausend Dingen. Ein Taumel zwischen den Polen. Dann, einen Moment lang, den Gesang hören, der sich aus dem Raunen schält. Tränenüberströmt steht man da. Man will es jemandem sagen, wie zärtlich die Welt gerade zu einem gewesen. Aber man ist sprachlos. Dann weiß man: Es braucht noch weitere lange, kalte Nächte – diesmal um Sprechen zu lernen. Man muß zum Poeten werden.
 
Ein Sprache finden, die fein genug ist, sich selbst zur Sprache kommen zu lassen, nicht nur die Bedeutung ihrer Wörter. Man wird einsam, weil man die gemäßigten Zonen verlassen muß. Dann ist man der höchsten Gefahr ausgesetzt: man meint ein Werk zu schaffen. Man meint, ein Künstler zu sein. Dann war alles vergebens. Doch muß es nicht so sein: Denn der Aufmerksame hinterläßt Zeichen – aber verwischt seine Spuren.
 
Ein Schmerz wird bleiben. Er markiert das, was sich den Worten und den Bildern hartnäckig entzieht. Ihn nicht betäuben, ihn aushalten, ist das süße Scheitern, wenn wir sprachlos vor dem Schönen stehen. Wir brauchen die Sorgfalt der Liebe, die das, was sie sieht, nicht durch den Begriff zerstören sondern sein lassen will. Kann man so uneitel sein, den Harmonien zuzugestehen, daß es sie schon immer gab und sie nur gerade jetzt wiedereinmal aus dem Raunen des Kosmos aufgestiegen sind? Ja. Aber man muß es üben.
 
Das Wahre kann immer nur dem ersten Blick standhalten. Beim zweiten Blick wird es fragwürdig. Beim dritten schäbig. Wir laufen durch eine Welt der zweiten und dritten Blicke und loben uns selbst für unser Durchschauen. (Der grand course des Erwachens schreibt also auch vor: man muß lernen, aus den Augenwinkeln zu sehen.)
 
Dem, was wir sehen, bringen wir nur Mißtrauen entgegen. Nicht aus Schutzbedürfnis oder Vorsicht. Sondern weil wir von ihm gekränkt sind. Die Dummheit des Durchschauens ist der Baumeister der windschiefen und provisorischen Anbauten an die Ideologien. Vor den Anbauten stehen die Resteerklärer, sie müßen dem staunenden Volk erklären, daß es Absicht sei, daß noch immer nicht alles hineinpasse in die Gebäude, daher die Anbauten und die wirre Ornamentik.  
 
In unserer Zeit sind Künstler und Philosophen zu Resteerklärern degradiert. Wenn wir uns weigern, diese Arbeit zu verrichten, müssen wir verhungern. Es gibt nur einen Weg, nicht zu verhungern und nicht Resteerklärer sein zu müssen: sich nie von der Kunst ernähren zu wollen.
 
Und doch muß es geschehen, das Werk. Jeder weiß das. „Furchtbarem Scheitern entgegen...“ Die Kunst und die sprechende Sprache schaffen einen Raum – Werk genannt. Nur im Werk wird ein vorhandenes Sein sichtbar, das sonst unsichtbar bleiben würde: Eine Qualität, die nur in einer symbolischen Form erkennbar werden kann. Aber sie ist so flüchtig und unfaßbar, daß ihr Auftauchen zwar provoziert, aber nicht garantiert werden kann. Wenn sie manifest wird, wie flüchtig auch immer, ist das allen restlichen Scheiterns wert.            
 
Der Tod ist nur im Okzident ein Skandal, und das obwohl wir doch wissen, daß Hypnos und Thanatos Brüder sind. Sie sind Söhne einer Mutter, die eine Mohnblume im Haar trägt.
 
Georges Latours, Zürich 1947
 
 
Ausstellung „Die Somnatisten, Galerie der Gegenwart, Kunsthalle Hamburg, 2006