1. somnatistisches Manifest
 
 
 
 
 
 
1. somnatistisches
 
MANIFEST
 
Die Welt liegt in Trümmern.
Aber die Welt hat schon immer in Trümmern gelegen.
In den Trümmern der Wiederholungen.
Das ist keine Überraschung.
 
Wir Somnatisten haben das Vergessen nicht vergessen, wir wissen, ein Manifest ist eine Wiederholung. Wir wissen, daß wir in Trümmern klauben. Doch es ist unsere Lust, aus den Fetzen der Erinnerung eine neue Leinwand zusammenzuflicken, aus dem Gestammel und Geraune einen neuen Text zu fügen. Wir tun Dinge, weil es das ist, was wir tun. Nichts sonst. Nehmt es euch. Wir sind schon weitergegangen. Zum nächsten Traum.
 
Ein Traum stößt einem zu.
Er ist zusammengesetzt aus der Welt.
Seine Quelle ist nicht tiefer als wir.
Ein Traum will nicht wirken, aber tut es.
Ist es Wunder, daß wir uns Somnatisten nennen?
Nein.
Ja.  
 
Die Erzählung von den Enden und den Anfängen ist ein Märchen, das uns langweilt. Die creatio ex nihilo, die der Künstler für sich reklamiert, ist durchtränkt vom Glauben noch des Mittelmäßigsten, etwas Neues hervorzubringen. Das Neue gegen das Alte – die ewige Avantgarde: zwischen Autarkie und Nutzen; Scylla und Charybdis. Der subjektive Wille, der ausführen und sich ausführen muß, gebiert Adoration und Appropriation. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Reiterstandbild und einem Versatzstück Bretons. Sie sind heilig. Ob sie wirken sollten, wirken wollten oder irgendwann als Ergebnis der Liturgie wirkten, ist unwichtig. Sie sind Werk. Sie sind Absicht oder mit Absicht aufgeladen. Sie nützen oder werden genutzt. Sie sind nicht sie selbst, sie sind nur Wiederholungen der Gier. Es sind die klügsten und tiefsten Strategien, die am schlimmsten scheitern: Weil sie sich schließlich für so effektiv halten, daß sie in Parteien eintreten und die Welt verändern wollen. Übrig bleibt ein Häufchen Asche, das verweht wie alles andere auch.
 
Die Somnatisten sind dumm. Sie sind schlaftrunken und einfältig. Sie schreiben Manifeste und Gedichte und machen Photographien und Zeichnungen und Gemälde. Was geht das jemanden an? Es geht den an, der es sich nimmt: Wie ein Straßenräuber oder wie ein Einbrecher, wie jemand der den ersten Kuß raubt oder sich vorher einschmeichelt. Macht doch, was ihr wollt. Wenn ihr bei unserer Kunst angekommen seid, sind wir schon wieder weg. Unsere Kunst ist umsonst. Sie ist nichts wert, weil wir sie nicht mit unserem Leben unterzeichnen und sie nicht für Euch aufgeführt wird. Sie ist wie ein Traum: billig.
 
Wo kommt sie her? Sie kommt aus den Zwischenräumen, bittesehr. Das lux mundi scheint aus den Ritzen und Zwischenräumen hervor, aus den schlecht verfugten Lücken des Seins. Es leuchtet an den Orten, die man nur aus den Augenwinkeln sieht und die verschwinden, wenn man seinen Blick darauf focussiert. Dort wo noch alles möglich ist, wo noch nichts entschieden ist, wo unabsichtlich alles sich weiterbewegt. Im Reih und Glied der Welt und ihren Wiederholungen ist Platz für diese Zwischenräume, man kann sich ihnen nähern, wenn man nicht hinschaut, wenn man flaniert ohne Ziel, wenn man die Dinge ein wenig reizt. Wenn man die Absicht fahren läßt, das Wirkenwollen. Im Schlaf bin Ich verschwunden: Ich bin ein wahrer Somnatist. Wo die Anschlüsse des Denkens nicht passen, da ist die einzige Wahrheit. (Ist das wahr?)
 
„Man muss etwas tun!“ wird gerufen! „Um etwas zu bekommen! Um etwas zu werden!“ Die Gier kauft die Kunst, weil die Gier eifersüchtig spürt, dass neben ihr etwas anderes existiert. Sie kann nicht dulden, dass Dinge keinen Zweck haben und manchmal ungewollt sogar Unsagbares auszudrücken vermögen. Die Gier ist tief verletzt, wenn da etwas ist, was vielleicht lustlos ist und gar nichts ausdrücken will, denn die Gier möchte immer etwas werden. Sie will alles werden, aber möchte als erstes Patron sein. Sie ist Patron geworden, als sie das „Werk“ erfand.
 
Viele Künstler, die etwas werden wollen, haben sich darauf verlegt, in rasender Hast Dinge hervorzubringen, die mit bedeutsamen Ideen aufgeladen werden, die kommentieren, anprangern, belehren, etwas zeigen sollen. Ein Rattenschwanz an Geschwätz muss diese Werke erklären. Es muss eine grosse Idee dahinterstehen, denn der Betrachter muss schliesslich spüren, dass das, dem er dort begegnet, grösser ist als er.
 
Ein Werk, das dem Betrachter etwas über sich beibringen muss, während es dem Betrachter etwas beibringen soll, ist Kunstgewerbe oder Propaganda. Nichts sonst. Es kann nicht allein dastehen. Es kommt aus dem Denken, der Absicht, und verharrt so im System der Gier. Es verlässt nie den Bezug zum Werden-wollen. Das Werk erschafft sich selbst in der Rückkopplung mit der Welt, d.h. dem Künstler, dessen Existenz es formt. Es ist paradox, aber die Künstler werden zum Nachhall ihrer Werke, und die Werke sind das Echo des Gebrülls der Gier. Wenn die Kunst etwas sagen soll, Werk sein soll, ist sie nur eine erstarrte naive Geste. Sie ist nur ein weiteres Reiterstandbild!
 
In den vergangenen Jahrzehnten glaubten die Hofnarren der Gier, dass sie die Kunst von vielerlei Fesseln befreit hätten, sie wahrhaftig um ihrer selbst willen und ohne Schranken neu erschaffen zu haben. Allein, welche Freiheit ist mit dem Bewusstsein gewonnen, nunmehr alles verkaufen zu können und nicht mehr nur die gefälligen Miniaturisierungen?  
 
Wir haben nichts mit der Dauerhaftigkeit zu schaffen. Aber nein, wir sind keine Nihilisten! Wir sagen nicht „Anything goes!“ Wir sind uns selber Grenze und wissen das. Es gibt nur wenige Wege, sich dem Wahn von Anfang und Ende und dem Wahn der Zwecke zu entziehen. Einer davon kann eine Kunst sein. Sie muss auf nichts hören, ist zu absolut nichts gut (wenn sie will) und muss niemandem etwas erklären. Sie gehört niemandem, auch nicht dem, der glaubt, sie zu durchschauen. Sie will nichts werden, sie steht teilnahmslos, einsam und nur sich selbst genügend im Raum: unkäuflich, unverkäuflich und völlig gleichgültig. Wie ein Berg: geschlossene Gestalt von weitem, aber ein Chaos von Details von nahem. Spuren. Spuren des Absoluten - in den Zwischenräumen, den Brüchen und den erklärungslosen Oberflächen, in den Reihungen, in denen plötzlich die zuvor ungesehene Nuance auftaucht. Für einen Moment. Vergesst nicht: für einen Moment!
 
Reiterstandbilder ohne Reiter, Sujets, die nur sagen „Sujet“, Farben, die nur sagen „Jetzt: rot!“. Nichts dekorierend, deklarierend, nichts kommentierend. Diese Kunst wird kommen. Aber auch diese Kunst wird vereinnahmt werden. Vom Durchschauen. Vom entrüsteten Protest gegen ihre Nutzlosigkeit, in der dann wieder ein verkäuflicher Nutzen entdeckt wird. (Aber der Skandal wird noch immer seinen Zweck erfüllen und jemandem nützen.)
 
Wir plündern Bücher und Bilder und Filme stehlen das, was wir in ihnen sehen wollen. Wir lassen sie zurück wie ausgeweidete Leichen. Und unseren Raub vermengen wir mit dem Plunder aus dem Magazin unserer Sinneserfahrungen und Erinnerungen. An guten Tagen sind wir wortgewandt genug, uns dafür Genies zu nennen, an schlechten Tagen wollen wir uns dafür umbringen.  Wenn man das zugeben kann, dann ist man ein guter Somnatist. Somnatisten bringen keine Werke hervor, sie machen ihre Arbeit und gehen davon. Sie wollen den Schleier der Maya nicht zerreißen, sondern vielleicht nur einen Lufhauch erzeugen, der ihn bewegt – so daß man ihn sehen kann, den Schleier, wie er das Antlitz des Unsagbaren umspielt.
 
Die Somnatisten machen Kunst oder irgendeine andere Arbeit und gehen dann nach Hause und essen. Wenn sie etwas zu essen haben. Dann gehen sie schlafen. Und träumen. Irgendwas. Ohne Anfang, ohne Ende.
 
 
    (Transkription von Flugblatt. Nachlaß Preiser. Wahrscheinlich 1946.)
 
 
Ausstellung d. Originals d. Manifests, Galerie der Gegenwart, Hamburger Kunsthale, 2006