Moritz von Bamsell ist seit seiner frühesten Jugend in den Alpen gewandert und geklettert. Zunächst wohl unter der Obhut eines Onkels, später dann vorwiegend allein oder mit Bergführern. Bamsell ist dann auch folgerichtig bei einem Bergunfall in den savoyer Alpen umgekommen (s.o.), obwohl er ein erfahrener und versierter Kletterer war, der in seinem Leben einige bedeutende Anstiege gemeistert hat. Moritz von Bamsell hat seine Gedanken und Erfahrungen über Natur, Bergsteigen und Verwandtes nicht in Tagebuchform festgehalten, sondern in loser Folge in diversen Journalen. Einige dieser Eintragungen sind durchaus im Zusammenhang mit seinem künstlerischen/ theoretischen Schaffen zu sehen. Das in der Hamburger Ausstellung von 2006 ausgestellte Notizbuch nimmt auf Bergfahrten ab 1946 Bezug. Die Anmerkungen sind wohl bei späterer Durchsicht erfolgt. Als Bergführer aus Chamonix im Juli 1949 den Leichnam Moritz von Bamsells auf dem Lechauxgletscher unterhalb der Grande Jorasse Nordwand entdeckten, fand sich u.a. dieses Notizbuch in seinem Rucksack. Es wurde im Musée de Alpinisme in Chamonix archiviert und ist eine Leihgabe eben daher.
Moritz v. Bamsell: (Auszüge aus seinem Bergtagebuch ab 1946):
Sich selbst fremd werden. Den eigenen, rasselnden Atem hören, nur durch die Kehle hören und nicht wissen, zu wem dieses Geräusch gehört. Auf dem Gipfel aus dem Traum des Kletterns erwachen und sich eigentlich fragen, was man dort will, zu suchen hat. Es ist betörend, den nicht zu kennen, der hier heraufgestiegen ist! In den „Bekenntnissen“ schreibt Augustinus: „Et eunt homines mirari alta montium ... et relinquunt se ipsos..“ (Deutsch: „Und die Menschen gingen nach den hohen Bergen und bewunderten sie und verloren sich selbst.“ Augustinus, Bekenntnisse, 10. Buch. Anm. d. Hrsg.)
„Eine Suite für Geräusche, die diese Tätigkeit, das Bergsteigen eben, so ganz nebenbei selbst schreibt: Das hohe, unvergleichlich schöne Singen eines Hakens, der in eine Spalte geschlagen wird; das dunkle, bedrohliche Schwirren eines vorbeifallenden Felsbrockens (das Geräusch des möglichen Todes...); der Atem, dessen Rhythmus sich mit dem Auf- und Abschwellen der Angszustände ändert; ein kurzer Windstoß, der die Stille erst hörbar macht. Diese Suite wäre unaufführbar, aber eine Notenschrift für sie zu erfinden, ist ein, für unser Bestreben alles zu erfassen und zu dokumentieren, passend lächerlicher Wunsch. Wie sonst soll es jemand erfahren, der nicht dort war?
„Das ist der Fehler, in die Natur hineinzuschauen, als schaue sie zurück. Sie spiegelt nur sich selbst in meinem Blick, sonst nichts. Wenn ich mich in ihr unter den Mühen des Aufstiegs selbst vergesse, dann ist da kein Unterschied mehr. Wir sind verschränkt. Unentwirrbar. Unauflöslich.
Piz Bernina, Juli 1946, (4059 Meter ü.M.). Crowley hatte recht, Jung hatte recht. Man kann in Indien nichts finden. Man bringt alles selber mit. Man muß den Osten nicht bemühen, um zu beschreiben, was man hier sieht. Das Chaos des Details aus dem sich, wenn der Blick ins Gedankenlose sich weitet, die Gestalt zusammensetzt, die uns vom Erhabenen träumen läßt. Ahnen läßt, daß es hinter dem Projekt eine Welt gibt, auf die wir ein Recht haben, weil wir sie stiften für die anderen, so wie die anderen für uns das Sein stiften.
Pathos ist ein Problem. Diese hohen Gefühlsaufwallungen richten nur Unheil an, heißt es. Haben sie wohl auch in den letzten „1000“ Jahren. Aber man darf doch naschen von dem, was größer ist als man selbst, als die eigene Existenz. Hier auf der Aguille Verte, nach drei Tagen Kälte und Angst und Mühen darf ich notieren, daß ich mir das bißchen Naschwerk verdient habe: Einen Blick von hoch oben. Der Bergfüher, Monsieur Chouniard, ist gelangweilt. Pathos nutzt sich eben ab. Deswegen soll man es greifen, wenn es noch frisch ist in einem – und dann fahren lassen. Ein Erschauern reicht. Der Abstieg ist lang.
Ich bin allein. Ich werde niemandem von dieser Bergfahrt berichten. Ich werde diesen Gipfel in mir geheimhalten. Und wenn ich wieder im Tal bin, wird es so sein wie ein flüchtiger Traum. Niemand anders weiß davon, also ist da kein vollbrachtes Werk. Das ist wahre Sabotage an einem von den anderen vermuteten Sinn der Sache. Traumhaft. (Und doch notiere ich das hier – aus purer Eitelkeit. Alleingang Crochoues Traverse, Aguille Rogues, Chamonix.)
Das Leben vernimmt sich selbst, wenn das Ich verschwindet hinter dem in Angst, Panik und totaler Konzentration arbeitenden Körper verschwindet. Das Denken – oh nein, nicht das Bewußtsein! – hindert uns daran, zu erleben. Es begrenzt nur. Verschwindet es, manchmal minutenlang, dann verschwimmen die Grenzen von Sein und Seiendem. Als wenn man in einem Bild verschwindet, dem man fassungslos gegenübersteht oder eine Musik hört, die alles in einem ausfüllt.