Permanent Permutation
Eine Arbeit von Wyllie Gorringer
 
Wyllie Gorringer, Begleittext zu „Permanent Permutation“:
 
(Wohl für die Bonner Ausstellung; montiert an oder neben dem Projektor)
 
 
„You go see a newsreel in a theatre and pretty soon you more or less dream what you see up on the screen. You know that feeling, right? Well, in the end it really doesn’t matter if it’s laughing GIs giving the thumbs-up after some battle or other or if it’s just a strand of wool wearing thin as you watch. As far as I’m concerned they’re both mere shadows – literally and figuratively. And I guess that’s all there is to say about this.“
 
 
 
 
Wie Wyllie Gorringer 1944 die Somnatisten kennenlernte. (Eine mögliche, aber fiktive Geschichte zusammengesetzt aus Fragmenten und Aufzeichnungen.)
 
 
Gorringer hatte Fronturlaub, obwohl er nie an irgendeiner Front gewesen war. Tausend Lügen, Tricks und Kniffe, erfundene  Verwandschaft (eine "Tante Hermine"). Er hatte es tatsächlich geschafft, mitten im Krieg von Südfrankreich aus in die Schweiz einreisen zu dürfen. Die Zugehörigkeit zur OSS machte es möglich. Er war ein paar Tage herumgelaufen in der Stadt, die so reich und so friedlich und so verschlossen war. Der Zürichsee. Die Villen mit ihren Parks drumherum. Alte Männer mit dicken Sonnenbrillen und viel zu jungen Begleiterinnen. Vollkommen unberührtes, altes Europa, das stoisch das 19.Jahrhundert behauptete, während um es herum das Zwanzigste zum zweiten Mal und mit aller Modernität, zu dem es fähig war, in Blut und Zerstörung sich suhlte. In einem kleinen Café hatte er allein an einem Tisch gesessen, ein Buch gelesen und Absinth getrunken. Das Café hatte sich nach und nach gefüllt und als Wyllie aus seinem Buch hochsah, bemerkte er, wie die zusammengewürfelte Laufkundschaft ersetzt worden war durch stilvoll armselig gekleidete Künstlertypen und stilvoll gut gekleidete Bohemians – einige in fadenschienigen, andere in tadelloser Aufmachung. Zwei Männer setzen sich zu ihm an den Tisch; es war nirgendwoanders mehr Platz, wie sich der größere der beiden sofort entschuldigte. Er war baumlang, hager, hatte dunkles, sorgfältig gescheiteltes aber auffallend langes Haar. Er hatte eine dicke Hornbrille auf, die sein ganzes Gesicht zu beherrschen schien. Er trug eine helle Kamelhaarjacke, einen sorgfältig gebundenen Schlips über einem weißen, gestärkten Hemd. Teuer. Gediegen. Der andere war recht klein und gedrungen hatte einen Bartschatten und ein Schock schwarzen, wirren Haares auf dem Kopf. Er trug einen zerknitterten dunklen Anzug und eine schlampig gebundene Krawatte. Eine Zigarette im Mundwinkel, die er auch nicht herausnahm, während er sprach. Der Blick des kleineren fiel auf Wyllies Buch und er schenkte ihm daraufhin ein konspiratives Lächeln. Wyllie kämpfte sich zu dieser Zeit durch den Tristram Shandy, den er schon immer hatte lesen wollen, aber nach den ersten paar Seiten regelmäßig als zu verwirrend weggelegt hatte. Jetzt hatte er dieses Café gefunden und die Zeit, die er brauchte, (weil ja nichts anderes zu tun war...), um zu lesen. Er hatte gute Fortschritte gemacht, hatte an den Zeilen, den Worten und schließlich den Wörtern Halt gefunden und den Verdacht, daß er es endlich in dieses Buch hineinschaffen würde.
  „Un livre tres bon. Ein gutes Buch. A good book,“ sagte der Mann und seine Zigarette wippte fröhlich mit. Wyllie nickte.
  „Oui. Ja. Yes.“ Er grinste den Mann an und gab vor, weiterlesen zu wollen. Aber Tristram Shandy hatte längst verloren gegen die Konkurrenz einer interessanten Begegnung – der ersten, die Wyllie während seines nun fast schon einwöchigen Aufenthaltes in Zürich gemacht hatte. Zürich schien ihn endlich herinzulassen, hoffte er. Es dauerte nur wenige Minuten und Wyllie hatte eine komplette Synopse - nebst literaturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Anmerkungen – des Tristram Shandy verabreicht bekommen. Die geschwärzten Seiten, die Kapitel, die folgende Kapitel ankündigten, nur um dann zu etwas ganz anderem abzuschweifen. Wyllie hörte immer wieder das Wort vom Undarstellbaren“ und dem „Unsagbaren“. Das schien die beiden Männer zu beschäftigen. Sie kamen Wyllie beseelt vor, durchdrungen von ... Kunst? Das ganze in einem atemlosen Duett, bei dem sich das ungleiche Paar, das da an seinem Tisch Platz genommen hatte, mehr darum stritt, wer jetzt was sagte, als sich um den eigentlichen Adressaten ihrer Rede zu kümmern. Der lange, dünne mit Brille hieß Moritz von Bamselle und stellte sich als Privatier ohne nennenswerte Privatsphäre vor (dessen Worte...). Der Gedrungene mit den wirren Haaren und der Zigarette hieß Georges Latour und sagte von sich, er sei im Augenblick Schriftsteller, aber man wisse ja nie, was noch so kommen würde. Tristram Shandy war schnell vergessen, denn er war nur Auslöser für eine wilde Jagd durch die feinsten Verästelungen einer Theorie vom Entstehen des Romans geworden, die Wyllies Tischnachbarn offensichtlich völlig spontan aufstellten. Vom Hundertsten ins Tausendste. Selbst sicherlich nicht ungebildet, fiel es Wyllie schwer, den beiden Männern in ihrer Unterhaltung zu folgen, aber irgendwie hangelte sich das Gespräch immer an den Wörtern „Schlaf“ und „Traum“ entlang, bis schließlich Nyx und ihre Söhne Hypnos und Thanatos als eigentlicher metaphorischer Urgrund für das Bedürfnis lange Texte zu erfinden (Romane eben) ausgemacht waren. Dann sagte Moritz etwas über Blake und Wylie hakte ein. Er kannte die Stiche von Blake und konnte auch „The Tyger“ auswendig rezitieren. „Tyger, tyger burning bright in the forests of the night...“ Die beiden Männer lauschten andächtig. Es war eine Initiation. Wyllie hatte bestanden. Moritz setzte zu einem Monolog über Blakes Stich „The Great Red Dragon and Woman Clothed with the Sun“ an, aber Georges stoppte ihn mit der lakonischen Bemerkung, daß der Symbolismus Blakes in diesem Zusammenhang eher ver- als erklärend sei. Moritz erwiderte gereizt, daß ihm Georges etwas eindimensionale Einstellung des primats der Dichtung über die bildende Kunst ganz besonders an diesem Abend auf die Nerven gehen würde.
„Bevor du, mein geschätzter Freund Georges, mich wieder mit Edmund Burke abgeschmacktem Gestammel langweilst, wirf doch lieber einen anderen Namen in den Ring.“
„Nur weil du es gerade mit einer Malerin treibst,“ erwiderte Georges verächtlich, „heißt das noch lange nicht, daß du sie auch in ihrer Abwesenheit verteidigen mußt.“
„Ich treibe es nicht mit Etsher, wie du es ausdrückst, sondern wir sind uns zugetan, und zwar so, wie es die Situation gerade erfordert. Und sie ist selbstverständlich gekränkt von Burke, denn einer sensiblen Malerin aus einer zweihunderjährigen Schwarte vorzutragen, daß ihr Bemühen um die Darstellung des Erhabenen immer hinter deinen Dichtungen zurückbleiben wird, mußte dazu führen, daß sie dich verläßt und bei mir und meiner etwas weniger dogmatischen Sichtweise Trost sucht.“
Georges lachte laut auf. „Esther hat mich nicht verlassen. Und erst recht nicht, weil schon andere vor mir gedacht haben, daß nur die Dichtung dem geist genügend Raum läßt, um das Undarstellbare darstellen zu können.“
„Schläft sie noch mir dir?“ fragte Moritz, sichtlich um soviel Beiläufigkeit bemüht, daß jeder Verdacht der Eifersucht darin ersaufen mußte – damit natürlich aber den gegenteiligen Effekt erreichend.
„Ja und nein.“
„Was soll das denn heißen?“
„Sie schläft mit mir, wenn sie bei dir schläft. Das reicht mir.“
„Woher willst du das wissen?“
„Esther liebt die Gleichzeitigkeit und kann sich nicht entscheiden. Sie hält sich immer alle Möglichkeiten offen. Außer, daß sie niemals dichten würde, weil ich das ja schon tue. Also ist sie auf eine Art immer bei mir oder ich bei ihr.“
„Dann wird es dich überraschen zu hören, daß sie mir neulich Nacht einige ihrer gerade verfaßten Gedichte vorgetragen hat.“
Georges schaute Moritz skeptisch an. „Wann war das?“
„Als du und Mia der Satyrstatue draußen im Park die Hörner spitzgefeilt habt. Übrigens eine ziemlich dumme Idee, denn ihr habt meine Metallfeile dabei ruiniert.“
„Na und? Wozu brauchst du eine Metallfeile?“
„Erstens ist es ein beruhigendes Gefühl in einem Haus ohne Möbel eine Metallfeile zu haben, und zweites feile ich damit die Spitzen meiner Steigeisen nach.“
„Ich möchte mich aber bitte jetzt nicht über deine Bergsteigerei unterhalten.“
„Niemand zwingt dich. Übrigens waren Esthers Gedichte den Ruin meiner Feile durchaus wert.“
„Ein Tausch, wie wundervoll. Mia dichtet wenigstens nicht, weder aus Eifersucht, noch aus fadenscheinigeren Beweggründen. Dafür schläft sie mit mir.“
„Mit dir und anderen.“
„Ja, gottseidank, Moritz. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie sich einbildet, daß wir irgendwie zueinander gehören.“
Wyllie schwam der Kopf. Er konnte nicht mehr folgen. Noch weniger als vorher. Er schien hier in eine Art Reigen geraten zu sein, deren Protagonisten mit allem Möglichen beschäftigt waren, nur nicht mit ... mit ... der Liebe.
Der Streit zwischen Moritz und Georges ging weiter und wurde immer absurder und kam Wyllie vor, wie zwei Männer, die ihre Schatten an der Wand gegeneinander boxen ließen. Niemand schien dem anderen die Treffer übelzunemhen, noch stellete sich bei Wyllie das Gefühl ein, daß irgendeiner der beiden dem anderen Übel nahm, was er sagte. Sie schienen den Streit gleichzeitig sehr ernst zu meinen ihn aber dennoch wie ein Spiel zu spielen, wie einen beliebigen Zeitvertreib. Dabei betrank man sich fürchtertlich und redete über alles nur nicht über den Krieg. Der Krieg war ihnen peinlich. Man fragte Wyllie nicht, was ein amerikanischer Lieutenant in Uniform in Zürich zu suchen hatte, wo doch um die Schweiz herum der große Krieg tobte. Aber auch Wyllie hatte nicht das geringste Bedürfnis, über den Krieg zu reden, und so gab es keinerlei peinliche Pausen. Überhaupt schien man sich für ihnnicht sonderlich zu interessieren, er war nur Publikum und eine Art impoteneter Richter ohne Urteilsrecht.
Als er schließlich so betrunken war, – es hatte Absint gegeben, die ganze Zeit Absinth – daß er gehen wollte, standen Moritz und Georges, seine beiden neuen Freunde auch auf. Wyllie schwankte, aber die beiden anderen machten keineswegs den Eindruck, auch betrunken zu sein. Moritz bezahlte. Er bezahlte alles, auch Wyllies Rechnung. Das schien normal zu sein. Der dicke Wirt machte keinerlei Anstalten, Georges oder Wyllie nach Geld zu fragen. Er nahm nur Moritz Geld und trollte sich. Man trat heraus ins Freie und Wyllie holte tief Luft. Es war ein lauer Sommerabend. Die Sonne war gerade untergegangen und ein Restrot spiegelte sich im See. Dahinter die Berge von Haute Savoie. Dazu die alte Stadt. Und er, Wyllie, mittendrin und mit interessanten, seltsamen neuen Freunden. Ihn erschauerte es vor Freude und vor Ehrfurcht vor sich selbst, dem Teufelskerl, dem solche Sachen einfach so passieren. Aber er war besoffen. Nein, nicht ganz. Er konnte noch denken. Ein wenig. Seine beiden neuen Freunde fragten nicht, sondern bugsierten ihn in einen schwarzen Citroen.
„Wo fahren wir hin?“ lallte Wyllie als er endlich fähig war, diesen sorgsam im eigentlich recht klaren Kopf zurechtgelegten Satz auch über seinen Sprechapparat nach außen dringen zu lassen.
„Wir fahren ins Haus,“ sagte Georges, der sich, auf dem Beifahrersitz zu ihm umdrehte.
„Welches Haus?“ Wyllie plierte Georges verständnislos an.
„Blake ist auch da,“ sagte Georges lächelnd und drehte sich wieder nach vorn.
„Sehr schön,“ sagte Wyllie und dachte, daß Blake doch eigentlich tot sei und ob er jetzt zu einer Seance gefahren werden würde, wo man den Dichter und Kupferstecher jetzt heraufkonjurieren würde, um mit ihm ein Schwätzchen über ... Dichtung und Kupferstiche (naheliegend) halten würde. Sie kamen in der Villa an, nachdem man etwa eine halbe Stunde südöstlich um den See herumgefahren war. Ein Anwesen in einem Park. Eher schon ein Herrenhaus als eine Villa. Seegrundstück. Reichtum. Aber als man über knirschenden Kies zum Portal des Hauses gelangt und durch die sperrangelweit aufstehende Flügeltür in die Eingangshalle getreten war, fiel Wyllie auf, daß er es hier nicht mit Reichtum im konventionellen Sinne zu tun haben würde. Es gab nämlich keine Möbel. Gar keine. Nur Teppiche. Keine Tische, Stühle oder andere Sitzmöbel. Nichtmal Betten, wie er später feststellen sollte. Aber dafür Teppiche. Und Kissen zu divanähnlichen Halden aufgeschüttet. An den Wänden Gemälde. An den Wänden hing der Reichtum, konstantierte der abgebrochene Kunstgeschichtler. Wenn auch nur ein paar der hunderte von Gemälden Originale waren, dann war der, dem dieses Domizil gehörte, wahrhaftig reich.
Moritz stand lächelnd neben Wyllie, der wiederum sich in einem großen Salon wiederfand und ein Bild von einer sich räkelnden, nackten Schönheit anstarrte. Courbet. Ficken. Wyllie hatte einen Ständer. Na, nicht so richtig, aber es regte sich was.
„Das meiste sind Fälschungen,“ sagte Moritz. Wyllie nickte.
„Aber verdammt gute.“
„Ja. Wirkliche Kunst.“
„Was immer das auch ist. Gibt’s Kaffee?“
„Es gibt alles.“
„Gut.“ Wyllie ließ sich wo er gerade stand auf dem Boden nieder. Auf einem Teppich. Er schaute sich um, bevor er auf die Seite fiel und einschlief, seinem Rausch Tribut zollend: es waren jetzt mehrere Leute in dem Raum. Moritz, der grinsend über ihm stand, Georges, der sich mit zwei Frauen unterhielt, die für Wyllies sich gerade schließende Augen nur noch als solche zu erkennen waren, ohne noch irgendwelche Details wahrzunehmen. Es waren wahrscheinlich schöne Frauen. Weil es ein reiches Haus war. Wie hießen die noch? Esther. Mia. Genau. Wyllie schlief ein.