Ende 1997 bekam Christoph Willumeit (Büro Archipel) einen Brief von seiner Ex-Frau Jill McCann (Maryland, USA). Diese hatte im Nachlass ihres kürzlich verstorbenen Vaters diverse Aufzeichnung und Tagebücher gefunden, manche davon datierten bis in den II. Weltkrieg zurück. In einem dieser Hefte fand Jill einen hektographierten (gedruckten) deutschen Text, den sie aber, obwohl des Deutschen einigermassen mächtig, nicht verstand. Bei diesem Text handelte es sich um ein Exemplar des 1. Somnatistischen Manifests (wahrscheinlich 1946). In der Annahme, dass Willumeit sich vielleicht dafür interessieren und ihr den ihr kryptisch vorkommenden Text erklären könnte, schickte sie ihn nach Deutschland. Willumeit las den Text, konnte ihn aber zunächst in keinen ihm bekannten kunstgeschichtlichen Zusammenhang einordnen; er bat McCann um die Aufzeichnungen ihres Vaters, die in die Zeit fielen, als er wahrscheinlich in den Besitz dieses Textes gelangt war.
Charles McCann war von Beruf Zeichner, der als junger Mann im II. Weltkrieg bei einer „White Propaganda“ Einheit der OSS diente, die Filme herstellte. McCann zeichnete Animationen, Karten und Titel für diese Filme. In diesem Zusammenhang könnte er OSS Agent Osgood Preiser kennengelernt haben. Preiser war ein Offizier, der in nicht näher geklärter Funktion an der höchst geheimen Operation „Ultra“ beteiligt war, nämlich der strategischen Irreführung über die Landung der Alliierten in Südfrankreich 1944. Nach dem Krieg blieb McCann noch drei Jahre im Dienste der Behörden der „American Forces in the Occupation Zone“ in der Nähe von Frankfurt am Main. Dann zog er nach London und trat in die neugegründete Werbeagentur des Ex-OSS Offiziers Osgood Preiser ein und leitete die Abteilung Animationsfilme (Vorspänne für Newsreels). Es ist wahrscheinlich, dass er hier Wyllie Gorringer kennenlernte, ein Mitglied der Gruppe der Somnatisten und Organisator der Ausstellung der Gruppe in Bonn 1947, der 1948 ebenfalls in diese Agentur eintrat.
Osgood Preiser war bis 1947 Chef der JCCE (Joint Committee for Cultural Advancement in the Occupation Zones), einer Dienststelle, die eine Tarneinrichtung des ehemaligen OSS (nunmehr CID, dann CIA) war, und die vorgeblicherweise kulturelle Aktivitäten unterstützen sollte, in Wirklichkeit aber der Sammlung von Informationen über die neuen (alten) Eliten im wiedererwachenden Kulturbetrieb Deutschlands diente. Nachdem Preiser seinen Dienst quittierte, was auffällig kurz nach Beendigung der somnatistischen Ausstellung im Gärtnerhaus der Bonner Redoute geschah, übersiedelte er nach London und gründete dort mit verblüffend grossem Kapitalaufwand eine Werbeagentur.
Die JCCE war offensichtlich ausser von der OSS Nachfolgeorganisation auch vom Britischen Militärgeheimdienst gesteuert gewesen oder teilte zumindest Informationen mit diesem. Das Hauptquartier der JCCE befand sich in der Britischen Zone in Bonn, und zwar im ehemaligen Hauptquartier des Coldstream Regiments auf dem Gelände des ehemaligen Johanniter Hospitals im Schlosspark Bad Godesberg. Das Gärtnerhaus war bis zum Bezug durch die JCCE Stabsquartier des britischen Militärgeheimdienstes gewesen. Stabschef war ein gewisser Colonel St.John, einem schottischen Hochadeliger. St. John war es, seinen eigenen Aufzeichnungen zufolge, der das „wilde Treiben“ in dem Gärtnerhaus (gemeint ist wohl die Ausstellung 1947) per Dekret beendete und auflöste. St.John liess Teile der Ausstellung beschlagnahmen und magazinieren. Diese magazinierten Arbeiten/Dokumente fanden sich nach St.Johns Tod in seinem Nachlass auf seinem Landsitz nördlich von Inverness wieder.
Nach der überstürzten Schliessung der somnatistischen Ausstellung in Bonn, ist Osgood Preiser von höchsten Stellen seiner Position als Leiter der JCCE enthoben worden. Ob das nun am Inhalt und Verlauf der Austellung, über die kaum etwas bekannt ist, ausser einigen wenigen Bemerkungen in Tagebüchern St.Johns, gelegen hat, oder an der später von Gorringer in Briefen gemutmassten Tatsache, dass Preiser durch allzu sorgfältige Recherche betreffs der neuen deutschen Eliten auf Teile der alten Eliten gestossen war. (Zu diesem Zeitpunkt war man bei den Amerikanern schon so weit, dass man im Kampf gegen den Kommunismus auch alte Nazi-Kader zu dulden bereit war. Diese Praxis durfte aber unter keinen Umständen publik werden.)
Preiser, Gorringer, St.John war nach dem Kriege alle in Grossbritannien. Gorringer war angestellt im Filmdepartment von Preisers Werbeagentur, in der just zu dieser Zeit auch Charles McElumrry arbeitete, der eifrig Tagebuch führte über die skurrilen Geschichten, die sein seltsamer Landsmann da über eine Schweizer Künstlerkommune zum besten gab. Woher McCann jedoch ein Exemplar des Manifests hatte, ist unklar.
Als Büro Archipel über die Tochter von McCann das Manifest zugespielt bekam, erwachte das Interesse an dieser seltsamen Gruppe, die in der offiziellen Kunstgeschichte nie auftauchte.
Über Charles McCanns Aufzeichnungen und Nachforschungen in seiner Biographie kam man schnell auf den Namen Osgood Preiser. Dessen einzige Tochter Fiona hatte nach dem Tode ihres Vaters 1980 seinen Nachlass geordnet. Ein Konvolut von alten Papieren, Fotos und Mappen mit allerlei Zeichnungen und Skizzen hatte sie bereits einem Experten von Christie’s vorgelegt, der diese als wertlos einstufte. Fiona Preiser bewahrte dieses Material dennoch auf, als Andenken an ihren Vater. In diesem Konvolut fanden sich die ersten Werke und Schriften, die weiteren Aufschluss auf die Existenz der Somnatisten gaben. Einige der Werke waren wohl Teil der Bonner Ausstellung gewesen und sind nun in der Ausstellung von Büro Archipel zu sehen.
Über die Aufzeichnungen Preisers, die Umstände der Ausstellung in Bonn, sowie die Kabalen um die JCCE, stiess man auf den Namen des Colonels St.John. Nach weiteren Recherchen gelang es Büro Archipel, auch dessen Nachlass einzusehen. Auch hier fanden sich Teile der Bonner Ausstellung sowie Dokumente und Aufzeichnungen der Somnatisten wieder. St.John selber ist nach dem Kriege zu einem bemerkenswerten Exzentriker geworden, der das gesamte Vermögen seiner Familie darauf verwendete, die in alle Winde versprengte Bibliothek des Satanisten Alistair Crowley wiederzusammenzukaufen. Seltsamerweise finden sich in St.Johns Aufzeichnungen wiederholt Querverweise zwischen dem Somnatisten Moritz v. Bamsell und Crowley – und zwar immer im Zusammenhang mit der Bergsteigerei, denn beide waren wohl fanatische Bergsteiger gewesen. (Crowley sogar einer besten und zugleich umstrittensten seiner Zeit.)
Die zusammengesetzten Puzzleteile aus den Nachlässen Preiser/St.John ergaben ein Bild, das die Recherchen bald auf Gorringers Familie (seinen Sohn Patrick) in Boston stossen liessen, sowie auf die Töchter der somantistischen Malerin Mia Moren in Paris. Patrick Gorringer übergab Büro Archipel das einzige „somantistische Werk“ Gorringers: Permanent Permutation sowie einen dazugehörigen kurzen Text. Clementine Benjedid (Tochter v. Mia Moren) überliess als Leihgabe die Zeichnungen und Gemälde, die ihre Mutter zeitlebens in ihrem Arbeitszimmer hängen hatte und die wohl ebenfalls Teil der Bonner Ausstellung 1947 gewesen waren.
Der Brand der Villa Bamsell am Zürichsee hat Bibliothek sowie Nachlass vom Moritz von Bamsell vollständig vernichtet. Dort wo einst die Villa der Familie Bamsell stand, befindet sich heute ein Altersheim. Die Umstände von Moritz‘ Tod führte Büro Archipel nach Chamonix, einen Bergsteiger-/Skiort in den französischen Westalpen. Moritz v. Bamsell kam dort im Winter 1949 bei dem Versuch um, eine Route durch die Nordwand des Grande Jorasse zu eröffnen. Die Tatsache, dass von Bamsell sich allein in dieser Route befand - eine äusserst ernste alpinistische Unternehmung - könnte darauf schliessen lassen, dass der zeitlebens zu Depressionen neigende Mann Selbstmordabsichten gehegt hatte. Zumindest jedoch war der Versuch, bei den herrschenden Verhältnissen allein durch diese schwerste Nordwand der Alpen zu klettern von vornherein nur mit geringsten Erfolgschancen gesegnet. Bamsell, zunächst als vermisst gemeldet, wurde Wochen später im anbrechenden Frühling am Fusse des Grande Jorasse auf dem Lechaux-Gletscher gefunden. Das Notizbuch, das er bei sich führte, hatte in Wachstuch eingeschlagen der Witterung einigermassen gut zu widerstehen vermocht. Es wurde im Musee de Alpinisme in Chamonix archiviert und Büro Archipel freundlicherweise für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung gestellt.
Das Manifest, zufällig gefunden in einem alten Notizbuch, findet seinen Weg zu jemandem, der sich für dieses merkwürdige Pamphlet interessiert und zu graben beginnt. Man findet Zeichen, Spuren, Lücken und mehr Fragen als vorher. Und man findet eine merkwürdige, fast absichtsvoll anmutende Spurlosigkeit in der Kunstgeschichte, was die Künstlergruppe der Somnatisten angeht. Man könnte fast vermuten, dass die Geschichte der Somnatisten absichtlich somnatistisch verlaufen ist.
(Text und Recherche: Bureau Archipel)