Die Protokolle der somnatistischen Sitzungen
 
 
Protokolle der somnatistischen Sitzungen:
 
(Maschinengeschriebene Transkriptionen der 8 noch auffindbaren Protokolle der somantistischen Sitzungen aus dem Jahr 1947. Handschriftliche Anmerkungen.)
 
 
1.)
 
„Moritz, der Mann mit dem Goldhelm, die Sonne der Somnatisten“
 
14.3.1947, Zürich, Villa Bamsell
 
Diskussion über das 1. Somnatistische Manifest.
 
Moritz: Gelobt seinen Goldhelm abzusetzen und seinen Sonnenhelm auch. Er sagt, beim Schlaf geht es um die ontologische Lücke, dort wo das (wie in der Mathematik auf der Zahlengeraden) „dichtgelegte“ Sein und das Nichtsein (keine Negation, sondern ein Nicht-sein) aufeinandertreffen sei der Schlaf: Das wiederholbare und umkehrbare Verschwinden. Die ontolog. Lücke als einziger Ort (Nichtort), der Offenheit gestattet: verschwunden, nichts, und doch wieder auftauchend aus dem Nichts. Welche Kraft hat es?
Esther: Lehnt Moritz‘ Konzeption des Schlafs als ontolog. Lücke ab, da offensichtlich aus theosophischer Buddhismus-Rezeption hergeleitet. Vielmehr Schlaf als Lapsus im Kreis der Wiederholung von Werden und Vergehen und nicht gleich als mystische KatGeorgesrie des (wenngleich nur probehalber...) Verlöschens.
 
(Lachen: wegen „Verlöschen probehalber“)
 
Georges: Lapsus/Hiatus in der entsetzlichen Wiederholung ist nicht der Schlaf, sondern was er gebiert: die Träume, die Verwerfungen, und daraus wieder, was wir schreiben und malen und tun müssen. Müssen. (!)
Mia: Man muß nichts tun, wenn man geschlafen und geträumt hat. Aber die Träume und die Benommenheit des Schlafs reichten wie Nebelfäden in unser Leben hinein. Sie mag mit diesen Fäden arbeiten.
Georges: Die Hindus sagen, dass das Sein aus dem Vibrieren des göttlichen Hauchs  bestünde. Fäden, die vibrieren, durch alle Dimensionen hindurch...
Mia: Wir hingen an diesen Fäden.
 
ENDE der Sitzung
 
(handschrifliche Bemerkung Latours: Theorie, Theorie, Theorie...)
 
 
 
2.)
„Ein Unbekannter versucht, weit entfernt, uns mit lauter Stimme zu rufen.“
 
23. 4. 1947, Zürich, Villa Bamsell
 
Moritz liest den Brief von einem gewissen Gorringer vor, ein Ex-OSS Mann und bekannt mit einem Freund vom Moritz, der in der US-Legation in Bern arbeitet. Dieser Gorringer hatte uns 1944 in Zürich besucht. Fonturlaub, wie er damals sagte.
(handschriftlich: Habe kaum Erinnerungen an den Mann.)
Der Brief hat in etwa den Inhalt, dass Gorringer eine Kunstausstellung  in einem Park in Bonn plant und uns dazu einlädt. Es sei eine Art Wette, schreibt er. (Handschrift des Absenders ist fast unleserlich. Wir versuchen uns alle am Entziffern, aber der Sinn mancher Zeichen bleibt uns verborgen. Leider keinen Rosetta Stein zur Hand...) Was hielte uns davon ab, einem uns eigentlich kaum bekannten Ex-Spion beim Gewinn einer Wette zu helfen? Allgemeiner Consensus: Nichts hielte uns davon ab. Außer den chaotischen Zuständen in Deutschland. (Gorringer sichert uns aber problemloses Reisen zu, dieweil er über beste Verbindungen zu den Okkupationsmächten verfüge.) In seinem Brief schreibt Gorringer weiter, daß er uns offenbar bereits als „the next big thing“  seiner dortigen Kunstszene vorstellen wolle. Als Künstlergruppe.
 
Esther: Wir sind keine Gruppe.
Mia: Wir sind ein Quartett.
Georges: Ich fordere Esther auf, das Problem von Gruppe und Gruppenzugehörigkeit ruhen zu lassen. Schließlich ginge es ja nicht um den Beitritt zur kommunistischen Partei.  
Esther: Man könne ja zum Beweise der Gruppenhaftigkeit Moritz‘ Manifest zu dem Amerikaner nach Bonn schicken.
Moritz: Es sei noch nicht fertig.
Mia: Das kann man doch sicher gar nicht erkennen. Wenn sie Moritz‘ Schriften lese, hätte sie immer das Gefühl entweder sie selbst oder die Schriften seien noch nicht fertig. Aber „unfertig“ sei doch gut, dann ist noch nicht alles vorbei. Und das sei gut und deshalb solle man das Manifest verschicken.
 
(handschriftl. Bemerkung hierzu von Latours: Sie ist klüger als wir!)
 
Georges: Man sollte eine Reise nach Bonn machen, egal was dort über uns oder von uns gesagt wird. Die wissen dort nichts, also können wir sein wie und was wir wollen.
Moritz: Unerwartete Angebote zu reisen sind wie ein Paschwurf bei einem Brettspiel, man macht Strecke und weiß nie was kommt.
 
ENDE der Sitzung
 
 
3.)
„Was tun? (Chlo delat? Aber Lenin ist einbalsamiert!)"
 
19.5. 1947, Zürich, Wohnung  Latours
 
Gorringers Ausstellung in Bonn
 
Moritz: Äußert Besorgnis wegen stringentem Erscheinungbild, Homogenität, Kohärenz.
Esther: Was stellen wir dort aus? Und wie erklären wir denen, warum wir zusammen ausstellen?
Mia: Uns. Was wir so machen. Und: Jeder schläft doch, jeder versteht das und überhaupt – keiner muß etwas verstehen. (paraphr.) Mia sagt: Der Amerikaner habe doch gesagt, wir könnten machen, was wir wollen. Man erwartet geradezu, daß wir nicht nur irgendwo brav ein paar Bilder aufhängen.
Latours: Wir sagen dem Amerikaner, wir kämen zu viert. Ein Ausflug. Das ist es, was wir machen. Ein Ausflug ist das, was wir machen und was wir wollen und dort ausstellen. Und dass wir nicht wissen, wer „wir“ sind (Unruhe bei Moritz) und was „wir“ wollen – nur dass wir es wollen und dass es laut werden muß.
Moritz: Laut?
Esther: Ich möchte nicht auffallen!
Mia: Ich möchte auffallen! Ich werde auffallen!
(alle paraphr.)
Georges: Stelle fest, dass sich das alle gut ergänzt und harmoniert. Ein fast dialektischer Ansatz. Wir machen eine Abstimmung.
 
4 Stimmen dafür, 4 Stimmen dagegen, 4 Enthaltungen. In der nächsten Woche wollen wir über den Fernsprecher mit Gorringer reden.
 
Moritz: Gorringer gefiele das Manifest. Er wolle es drucken und anschlagen lassen.
Mia: Anschlagen? Wo?
Moritz: An den Wänden der Ruinen.
 
ENDE der Sitzung.
 
(Esther ist aufgeregt, denn sie ist nun gezwungen ihre Arbeiten herzuzeigen  - oder genug gezwungen, um nicht mehr mangelende Gelegenheiten  und Desinteresse vorschützen zu können. Mia freut sich darauf, aufzufallen. Moritz hat ein Project. Ich selbst werde rauchen und trinken und schreiben und endlos reden und hinterher alles wieder vergessen. Wie immer. Aber eben an einem anderen Ort und das ist eine willkommene Abwechslung.)
 
 
 
4.)
 „Eine Frau fragt mich: Wie sieht der Mann am anderen Ende des Drahtes aus.“
 
30.5 1947, Zürich, Telefonkabine des Hotels am See
 
Ende des Ferngesprächs mit Wyllie Gorringer in Bonn. Moritz spricht und hält den Hörer. (Transkription der Unterhaltung) :
 
Moritz: Ja. Wir kommen.
Gorringer: (unverständl. Laut) Sehr gut. I mean, that’s, you know... I mean, I am very excited. Sie alles drei? Kommen Sie alles drei?
Moritz: (Räuspert sich vernehmlich) Vier. Wir sind vier.
Gorringer: That‘s just as well. Four is even better. The more the merrier, you know.  
 
Ein Klicken in der Leitung; das Gespräch ist beendet.
(nachstehende Unterhaltung paraphr.)
 
Esther: Ich fühle mich wie eine Fälscherin, wenn ich mich als „Somnatistin“ ausstelle. Ich werde neu getauft. Ich will nicht neu getauft werden. Es ist als bekäme ich ein neues Etikett.
Moritz: Es sei gegen mehrmaliges Taufen nichts einzuwenden. Die meisten Schöfpungmythen hätten eine starke Wasserkomponente. Esther befände sich nicht in schlechter Gesellschaft.
Mia: Etiketten seien zudem sehr nützlich. Man könne sie zum Beispiel aus der Kleidung einer Leiche heraustrennen, um deren Herkunft unkenntlich zu machen.
Esther: Welche Leiche?
Georges: Figurativ gesprochen. Außerdem sind Fälschungen per se nichts verdammenswertes: Sie sind da und werden eine Weile aus den richtigen und auch aus den falschen Gründen bestaunt – genau wie Originale.
Esther: Sagt, sie wolle in diesem Falle ausstellen, wie sie sich mit aller Ernsthaftigkeit fälsche. Sie sagt, sie wird ausstellen unter dem Etikett der Somnatisten, weil  sie so nicht in Gefahr geriete, ihre eigenen Sachen ausstellen zu müssen, sondern nur eben die gefälschten, die falsch etikettierten eben.
Georges: Ich sage, sie sei eine wahre Somnatistin.
Moritz: Wir werden ein Loch graben.
Mia: Ihr. Ihr werdet ein Loch graben.
Georges: Genau.
 
Es wird abgestimmt und alle sind dafür, sich künftig nicht mehr in Telefonkabinen zu treffen – der Enge wegen.
 
ENDE der Sitzung.
5.)
 
„Eine mehrstöckige Schönheit würde gern die Seele eines Mannes haben.“
 
14.6. 1947, Zürich, Seeufer – wie in einem Gemälde.  
 
Esther ißt auf karierter Decke. Mia badet halbnackt und es gibt einen Auflauf.
 
Moritz sagt, daß eine nackte Esther keinen Auflauf, sondern einen spontanen Gottesdienst provozieren würde.
Esther steht auf und geht davon. Moritz entschuldigt sich. Es ist niemand da, außer Latours, der diese Entschuldigung hört. Latours‘ Gegenwart ist in diesem Zusammenhang nutzlos, da er fand, daß es ein sehr schönes Kompliment war. Wenngleich auf Kosten Mias. Mia tritt hinzu und tropft auf die karierte Decke und den Käse.
 
Georges: Ich bin müde.
Mia: Ich auch. Schwimmen macht müde.
Moritz: Absurde Vorstellung eigentlich, das man dauernd etwas tun muß, um an der Oberfläche zu bleiben. Wozu das ganze?
Mia: Atmen.
Moritz: Ach ja.
Georges Latour legt sich schlafen. Mia legt sich neben ihn. Formt die Beugung seines Körpers nach.
Moritz entfernt sich diskret.  
 
 
ENDE der Sitzung.    
 
 
6.)
 
„Der Affe sagt, man muß Gedenken.“
 
4.7. 1947, Divanzimmer, Villa Bamsell, Zürich.
 
Sitzung aus Anlaß des amerikanischen Unabhängigkeitstages.
 
Esther: Sie haben Europa befreit.
Mia: Sie haben Europa geschwängert.
(handschriftlich Georges: Sie ist klug und ich liebe sie.)  
 
Moritz sagt, daß er Gäste zu der Sitzung eingeladen hätte, zwei Herren von der US Legation. Sie sprächen kein Deutsch. Moritz verläßt den Sitzungssaal (Divanzimmer) vorübergehend. Esther und Mia beginnen ein Streitgespräch über Kunst und Krieg. Latours hört eine Weile zu und stellt dann fest, daß sich weder die Kunst noch der Krieg um das Streitgespräch der beiden scheren wird. Allerdings werden eine Menge Leute eine Menge apodiktischen Unsinn über die Kunst, die nach diesem Kriege kommt, verbreiten. Esther und Mia streiten sich mit Latours über den gerade von ihm verbreiteten apodiktischen Unsinn. Moritz betritt in Begleitung von zwei Herren in dunklen Anzügen den Sitzungssaal. Die Herren haben sehr kurze Haare und dicke Hornbrillen. Sie lehnen die dargebotene Opiumpfeife ab, fühlen sich sichtlich unwohl auf dem Divan. Um die Herren aufzumuntern, zitiert Latours Verse von William Blake. Die Herren scheinen William Blake nicht zu kennen und fragen erstaunt nach, was brennende Tiger in nächtlichen Wäldern mit unsterblichen Händen und Augen zu tun hätten.  
 
Moritz trägt in stockendem Englisch seine Ansicht vor, daß ein Gedenken an Gründungen und Gründungsmythen von Nationen sehr wertvoll sei könnten, um das Entstehen der schieren Barbarei, die Nationen ultimativ immer hervorbringen würden, ein wenig herauszuzögern. Latours stellt gegenüber Moritz fest, daß dessen mittelmäßiges Beherrschen der englischen Sprache gerade ein kleines Mißverständnis erzeugt hätte: Bei den Herren von der amerikanischen Legation war nämlich von Moritz Rede nur soviel zu verstehen gewesen, daß der Affe sagt, man müsse gedenken.Die Herren von der Legation verabschieden sich mit kühlem Gruß.
 
Esther und Mia, haben zu sehr dem Opium zugesprochen. Sie verabschieden sich nicht. Sie schlafen. (handschriftlich, Georges: Sie sind so schön!) Moritz beantragt eine Abstimmung darüber, ob man nicht zukunftig originellere Anlässe für Sitzungen wählen sollte. Es wird nicht abgestimmt.
 
(handschriflich Georges: )
Wozu auch?
ENDE der Sitzung.        
 
7.)
 
„Die Lust und der Zweck heiraten nicht, sie haben ein Verhältnis.“
 
1.8. 1947, Zürich, Wohnung Latours.
 
Diskussion über die bevorstehende Ausstellung (Juli)im deutschen Bonn. a) Was zeigen? b) Warum zeigen? c) Was tun? d) Warum etwas tun? e) Was wird Gorringer tun?
 
Das Protokoll fällt aus. (Warum? Wer weiß das schon.)
 
ENDE der Sitzung
 
 
  
  
 
8.)
 
„Ein Dämon spricht - aber sagt nur Fahrpläne auf.“
 
31.8. 1947, Villa Bamselle, Zürich.
 
Sitzung anläßlich der Reisevorbereitungen/Bonn.
 
Moritz trägt seine Rechercheergebnisse betreffs der Zugverbindungen vor. Ergebnis: Ab der deutschen Grenze (Basel) hat man es zunächst mit französischen, ab Kochem mit amerikanischen und ab Koblenz mit britischen Militäreisenbahnern zu tun. Es wird eine mehrtägige Reise einkalkuliert. Weinstein erwägt Absage. Moren erwägt ebenfalls Absage. Latours verliest einen Brief von Gorringer, in dem beste  Unterbringung und Verpflegung versprochen werden. Es liegt eine Photographie bei, die offensichtlich Herrn Gorringer zeigt. Moren umentschließt sich doch zu der Reise.
Moritz zeigt die Lederfutterale vor, die er bei einem Sattler hat anfertigen lassen zum Zwecke des Transports von Bildern/ Photographien/Zeichnungen. Sie sehen aus wie Häute für Posaunen und kleine Kanonen.
 
Latours: Man sollte die Futterale mitausstellen. Immerhin seien das wahre Wunderdinge: Sie sehen gut aus, fassen sich gut an und haben den Zweck, vollkommen zwecklose Dinge zu schützen. (Handschriftlich: Fast wie die Sprache...)
Mia: Ganz anders als Kleider.
Auf diesen Einwurf antwortet niemand.
Weinstein(paraphr.): Wer sind die Leute, die dort zur Vernissage erscheinen werden? – Sie erklärt Unwohlsein gegenüber den Deutschen, die dort zugegen sein könnten, denn wer außer den alten Eliten hätte wohl Zeit und Muße, sich in einem völlig zerstörten und hungernden Land mit Kunst auseinanderzusetzen?
Moritz: (paraphr.) Korrespondenz mit diversen deutschen Künstlern und Kulturschaffenden bestätigt, daß die Leute aller Schichten und Coleurs geradezu ausgehungert nach allem seien, was irgendwie nach Kunst riechen würde. (Allerdings auch sonst.)
Mia fragt entrüstet, ob sie etwa nach Kunst riechen würde? Und wenn ja, wie das röche?
 
(Latours handschriftlich: Coco wäre außer sich...)
 
 
ENDE der Sitzung.