Bruder Hypnos.
Oder auch: Die Nihilistenküste
 
 
Transkription der handschriftlichen Entwürfe zu einem Theaterstück von George Latours. Es handelt sich um dabei offensichtlich um die Vorarbeiten für das Stück, das im Mai 1947 bei einer Art „happening“ öffentlich „nach unbekannter Adresse in Paraguay“ verschickt wurde. (Siehe Originalplakat oben.)  
 
 
 
BRUDER HYPNOS
(Oder auch: Die Nihilistenküste)
 
Ein somnatistisches Theaterstück für den postalischen Versand
 
 
von
George Latours
 
 
 
 
 
 
Erster Akt, 1. Szene:
 
Die Bühne: Ein öffentlicher Platz in einer Stadt.  
 
Eine Gruppe von Menschen in Straßenkleidung steht beieinander. Man hat einen Kreis gebildet - um ein in Packpapier geschlagenes dickes Manuskript herum. Zwei Männer und zwei Frauen öffnen Champagnerflaschen und gießen den Umstehenden in die hohle Handfläche ein. Man prostet sich ad lib. zu und schlürft.
 
Georges zieht ein beschriebenes Blatt Papier hervor, von dem er deklamierend ablesen will.
 
Mia nimmt ihm das Papier aus der Hand, schiebt Georges zur Seite. Sie tanzt einen unfertigen, dilettantischen Ballerinentanz, während sie das auf dem Blatt Geschriebene vorträgt:
 
Mia (singt wie wenn ein Kinderlied vortragend):  
 
Ich träume von einer Parade des Behelfsmäßigen,
Ein Fest des Unfertigen, das alle genießen
Und keiner zum Werk erklärt.
 
Ein Fest, das alle trunken macht und das
Vollkommen unbedeutend ist.
 
Ich träume von einer Parade von träumenden Strauchdieben
Die selbst zum Schlafen noch zu müde sind,
Deren klappernde Zähne den Takt schlagen.
 
Von verwunderten Bürgern, die ängstlich hinter ihren Vorhängen hervorlugen und die
Parade des behelfsmäßigen Lebens,
den Rausch des Provisorischen
Verständnislos und entrüstet begaffen.
 
Der Chor unseres Lumpenzuges schwillt an;
1000 heisere Kehlen, die das Leben
Von der Hand in den Mund feiern
Und lachend das kurze Aufblitzen
Ihres Lebens für sich behalten und wissen
Dass es keine besonderen Vorkommnisse gibt.    
 
Mia endigt. Esther wirft das Packet mit feierlicher Geste in einen nahen Briefkasten ein.
 
Mia: Und jetzt?
 
Georges: Jetzt rüsten wir eine Expedition nach der Nihilistenküste aus.
 
Esther: Wo ist das denn?
 
Georges: Wir reisen dem Theaterstück hinterher, das wir gerade in den Postkasten geworfen haben. Kennt jemand die Adresse?
 
Ad. lib. Kopfschütteln und Verneinen.
 
Die Gruppe zerstreut sich schnell und zielstrebig, als ob ein jeder anderweitig dringende Geschäfte hätte.  
 
 
 
Erster Akt, 2. Szene:
 
Die Bühne: Ein Strand.
 
CHOR (singt verdächtig neutönerisch): Brancusi, Brancusi, gib mir die Kunst zu saufen
Und lasse mich vergessen jetzt schon,
Was alle bald ohn‘hin vergessen haben werden.
 
Ein Narr springt auf die Bühne und beschimpft den Chor.
 
Narr: Vergessen jetzt schon, was da jeder Tropf
Bald ohnehin vergißt?
Denn jeder ist ganz bald ein Toter
Und jeder wird vergessen müssen.
Erinnern ist der Lebenden Geschäft,
Und tun sie’s nicht, verweigern sie
Was allein das ihre ist!
 
Chrorleiter (zu dem Narr): Der Mann ist verrückt. Irre. Er spricht in Reimen und will was meinen! Schafft ihn fort!  
    
Der Narr wird von einigen Mitgliedern des Chors von der Bühne gezerrt.
 
Der Chor formiert sich wieder.
 
CHOR (singt): Brancusi, Brancusi du bist ein guter Schläfer
Und doch ein schlechter Prophet,
Denn deine Welt die ist aus Holz
Und kann nur tief gelackt die Zeiten überleben.
Nach Rückwärts bist Du ein Prophet, wie jener Mann
Der einst in Jena Geschichts Geschichten
Für erstarrt erklärte.
 
Ein Dichter betritt die Bühne und räuspert sich. Dann wirft er sich in Pose und beginnt zu deklamieren.
 
Dichter (laut/pathetisch):
 
Ein Tempel aus riesigen Quadern geschlagen.
Ein Becken darin, mit meinem Blut gefüllt.
Der Junge wird damit getauft,
Nur wird er dadurch nicht zum Menschen.
Denn erst wenn kalte Winde
Die Quader abgeschliffen haben,
Erst wenn's Gewölbe eingestürzt,
Die Außenmauern nur kulissengleich und ohne Dach ihre Gaukelnd Schatten werfen,
Dringt Licht durch öl‘ge Finsternis,
Die‘s junge Tier bis jetzt umgab.
Es ist ein Licht, das manchen Dingen
Milden Glanz verleiht
Und jene schwarzen Schatten
Der Bedenkenlosigkeit verscheucht.
Doch getragen wird die Fackel von einem alten Mann, Der aus einem Buch ließt mit leiser Stimme,
Verse die den Menschen einhüllen
in eine eiserne Decke aus Schwermut.
Sein irres Gemurmel, tonlos verweht es, doch man kann Seine Lippen lesen und die Botschaft verstehen:
"Nichts verloren, nichts gewonnen. Der Anfang ist vom Ende nicht zu scheiden. Alles genommen, alles gegeben, dazwischen ist die Zeit veronnen."
Der alte Mann, auf kaltem Stein dahingekauert,
Wirft seinen Blick durch Fenster,
Die nur nackte Rahmen sind,
Die nichts beschirmen oder offenbaren,
So wie die Räume hinter ihnen.
Das Blut im Becken, wo man einst den Jungen taufte, Ist jetzt verklumpt, zu zähem Brei geronnen.
Durch welche dunklen Schluchten
Der Täufling jetzt auch irren mag,
Sein Herz liegt hier in der Ruine; den Trümmern der Erinnerung.
Entstellt, zerschlagen und verfallen,
Mit 1000 Träumen ausgeschmückt,
Träume, die in Fetzen von den Wänden hängen
wie Gobelins mit Mottenfraß.
Ein Licht, das flackert, eine zarte Regung,
Die hell sich spiegelt in Metallens Kälte
Der Kugel der Unwägbarkeiten, dem Traume der Erinnerung.  
 
 
Chorleiter: Das ist jetzt aber mal wirklich originell.
 
Dichter: Irgendwas muß doch passieren, sonst wendet das Publikum sich ab. Und um so besser, wenn’s was ist, was man vertraulich Kunst nennen kann, weil es so schön unverständlich dunkel raunt. Ach was, wenn man es nur irgendetwas nennen kann.
 
Chorleiter: Wieso? Wir singen doch.
 
Dichter: Ja, aber Unsinn eben.
 
Einer aus dem Chor tritt hinzu, deutet hinaus aufs Meer.
 
Chorsänger: Da kommt ein Schiff.
 
Der Chorleiter beschirmt die Augen mit der Hand und starrt hinaus aufs Meer.
 
Chorleiter: Verflucht, das werden Entecker sein.
 
Dichter: Ethnologen womöglich.
 
Chorsänger (besorgt): Was sollen wir tun?
 
Chorleiter: Wir geben den Mykeneschwindel. Die müssen ja nicht wissen, dass sie an der Nihilistenküste gelandet ist.
 
 
Zweiter  Akt, 1. Szene:
 
(Die Landung der Somnatisten an der Nihilistenküste. Der Mykeneschwindel.)
 
 
 Dialoge:
 
George: Ich habe etwas gefunden! Eine Stadt!
 
Moritz: Die Ausgrabungen schreiten langsamer voran als die Deutung des Ausgegrabenen! Manche Dinge, die noch nichtmal gefunden wurden, sind schon gedeutet und klassifiziert. Eigentlich braucht man sie gar nicht mehr zu finden.
 
Esther: Hier ist was faul.
 
Mia: Mykene habe ich mir anders vorgestellt. Sonniger.
 
George: Wir sind Schwindlern aufgesessen! Was für ein Spaß!
 
Chorleiter: Wie haben sie uns gefunden?
 
Moritz: Im Schlaf.
 
Chorleiter: Sind sie Traumdeuter?
 
Moritz: Nein, aber müde.
 
 
Zweiter Akt, 2. Szene:
 
Dialoge über das „Werk“:
 
Esther: Das Werk formt das Leben. Und wo wir schonmal hier sind und was zum Ausgraben da ist, sind wir eben Archäologen, ganz ernste und von unserer Arbeit, ach was: unserer Mission, beseelte Archäologen. Alle anderen machen das auch so.
 
 
Zweiter Akt, 3. Szene:
 
„Der Schlaf der Welt“: Bei Nietzsche durch das Dionysische durchbrochen, bei Kant durch Gelassenheit.
 
Dialoge:
 
Die Maya ist Notwendigkeit, die Oberfläche ist das Leben!
Nicht das Zerreissen des Schleiers, sondern ein Lufthauch, um den Schleier zu bewegen und so sichtbar zu machen, das will der Somnatismus sein. („Entlarvung“: Mit Worten und Dingen Worte und Dinge entlarven ist die pure Einfalt.) Der Schleier ist schön, er verhüllt, aber er verheißt. Die Restverheißung und das Ahnen sind wovon wir leben. Vom Raunen.
 
 
Zweiter Akt, 4. Szene:
 
Reihungen: Der Chor ist angetreten. In einer Reihe, die abgeschritten wird. Doch die Reihe endet nie, weil hinter der Reihe der letzte immer wieder nach vorn läuft.
 
Dialoge:
 
„Das ist einer von vielen Gründen, nicht in die kommunistische Partei einzutreten oder an Revolutionen zu glauben: Sie haben der Verzweiflung nur eine berechenbarere und gleichförmigere Verzweiflung entgegenzusetzen. Wie langweilig.“
 
 
Dritter Akt., 1 Szene:
 
Georges trägt Gedichte vor, auf einem Divan liegend. Neben ihm eine grell geschminkte, auffällig leichtbekleidete Dirne.
 
Georges (zur Dirne): Ich bin sehr betrunken. Aber höre Dir meine Gesänge an und dann...
 
Dirne: Jetzt mach schon.
 
Georges (räuspert sich, dann deklamiert er):
 
 
HYPNOS
 
Aus der Schwärze der Nacht tritt ein Jüngling.
Aus dem Unterleib der Nyx
Ist er auf das freie Feld getreten,
Wo seine Füße keine Spuren hinterlassen.
An seinem nackten Rücken sind Schwingen zu sehen,
Die weiß und rein sind, wie frisch gefallener Schnee.
Sein Blick ist verhüllt; nach innen gerichtet,
Als gäbe es dort mehr zu schauen, als in der Welt.
Sein Schritt ist ruhig und sicher,
Aber ein Ziel hat er nicht,
Wenngleich er doch nie die Richtung ändert.
Wer ihm ins Gesicht schaut,
Sinkt zu Boden in tiefem Schlaf,
Und sieht Dinge, die sonst nur sein Blick erkennt.
Hypnos geht seinen Weg,
Aber sein Bruder folgt ihm auf dem Fuße.
 
 
THANATOS
 
Aus dem Bauch der Nyx
Tritt ein zweiter Jüngling hervor.
Seine Füße hinterlassen tiefe Spuren im Feld,
Um jedoch Momente später wieder zu verschwinden.
Auf seinem nackten Rücken schwarze Schwingen,
Die glänzen wie flüssiges Pech.
Sein Blick ist stolz und hart;
Scheint Geschosse von glühendem Metall zu schleudern.
Hinter seinem Bruder her,
Zieht er mit gleicher Ziellosigkeit,
Gleicher Unbeirrbarkeit.
Wen sein Blick trifft, fällt darnieder
Und wird vergessen.
Nur ein Schatten bleibt manchmal zurück,
Doch meistens nur ein Häufchen Staub, das verweht.
Thanatos geht seinen Weg; er ist der König der Welt.
 
 
EROS
 
Frucht von Ares Lenden und Aphrodites Schoß,
Springt er in die Welt; bereitet Sorgen, Not,
Wahn, Liebe, Glück, Hass und oft auch den Tod.
Klein von Statur, ein Knabe noch,
Die Schwingen auf dem Rücken,
Sendet er Pfeil um Pfeil in die Herzen der Menschen.
Doch auch er liebt und leidet;
Psyche heißt seine Gespielin.
Ziellos ist sein Tun.
Keines seiner Opfer kann sich wehren gegen seinen Pfeil.
Seine Mutter züchtigt ihn hart für seine Taten,
Aber das spornt ihn nur an zu neuen Streichen.
Thanatos liebt diesen Jüngling,
Denn oft führt er ihm einen Menschen heran,
Der sich nur zu gern berühren läßt,
Von der Hand des Königs der Welt.
Hypnos hingegen meidet ihn,
Denn oft verfehlt sein Blick die Wirkung
Wenn von Eros' Pfeil getroffen.
 
Georges trinkt aus einer Schnapsflasche.
 
Dirne: Die haben ja alle Flügel die Kerle.
 
Georges: Ja, wieso? Stört dich das?
 
Dirne: Dann müssen die ja immer oben liegen, sonst gehen sie kaputt.
 
Georges: Sei still. Es geht noch weiter.
 
Dirne: Lieben wir uns heute überhaupt noch?
 
Georges: Mal sehen, wie Du dich nach den nächsten sechs Gedichten fühlst. Da sind nämlich noch: IV.Die Zwillinge; V.Die Macht des Hypnos – Träume; VI.Die Macht des Thanatos - Der König der Welt; VII.Die Macht des Eros – Wahn. VIII.Bilder; IX.Hypnos besiegt den König der Welt.
 
Dirne: Mach zu. Ich will Heim.
 
Georges steht auf und torkelt an den Bühnenrand.
 
Georges: Es gibt Momente... Es gibt Momente... Es gibt Momente... Es gibt Momente... Es gibt Momente, da hat die Kunst einfach keinen Platz. Wenn sie dann trotzdem redet... Ja, was dann eigentlich? (Dreht sich nach der Dirne hin) Was ist dann?
 
Dirne: Ach, Du mit deinem hochgestochenem Gerede. Hast wohl nix in der Hose, hmm?
 
Georges: Was passiert eigentlich mit uns, wenn man nichts will? Ist die Welt dann leer? Kann man eigentlich etwas schreiben oder malen oder komponieren, wenn man nichts will? Ohne Libido? Ohne Erklärungen? Einfach behaupten, man will gar nicht werkenwirken. Gutes Wort: werkenwirken.
 
Georges torkelt.
 
Georges: (brüllt): Werkenwirken! Wer behauptet, er will nicht werkenwirken, ist ein Lügner. Das ist ein Dilemma. Jawohl.
 
Georges bricht betrunken zusammen – und schläft ein. Er zuckt im Traum, wie ein träumender junger Hund, der kläffend ein Wild verfolgt.  
 
 
Dritter Akt, 2.Szene:
 
Moritz, Esther, Mia, Georges bei ihren Ausgrabungen an der Nihilstenküste, verkleidet als Archäologen/Forscher mit Tropenhelmen, etc.
 
Es steht inzwischen eine lange Reihe von vollkommen identischen Statuetten, die die Somnatisten ausgegraben haben, in Reih und Glied auf der Bühne.
 
Moritz: Man könnte glatt zum Spengleristen werden, angesichts der ewigen Wiederholungen.
 
Mia: Oder hungrig.
 
Esther: Oder gelangweilt.    
 
Georges: Oder Kegler.
 
Moritz: Das Eine, das Andere, das Selbe. Wenn man wenigstens in Nuancen Trost finden könnte.
 
Esther: Stattdessen Tonfigürchen in einem getürkten Mykene.
 
Mia: Wenn das die Mykener wüßten, oder wie die hießen, oder die Türken. Kann man nicht auch sagen: Stattdesen Tonfigürchen in einer gemykenten Türkei?
 
Georges: Das spielt keine Rolle. Die Geschichten müssen immer wieder erzählt werden, immer wieder neu. Weil sie sonst vergessen werden, wenn sie nicht im gegenwärtigen Gewand auftreten.
 
Esther: Würde das was ausmachen? Die Welt besteht doch im wesentlichen aus Vergessen. Man darf das Vergessen nicht vergessen!
 
Georges: Schon, aber nur deshalb, damit die alten Geschichten neu klingen.
 
Moritz: Die Welt ist ein Schläfer ohne Kopf, ein Träumer ohne Erinnerung. Und nur deshalb langweilt sie sich nicht an sich selbst zu Tode.
 
Esther: Danken wir Gott, oder wem auch immer, daß wir nicht leben müssen vom Figürchenmachen. Daß wir sie nur ausgraben brauchen.
 
Im Hintergrund werden sie vom Chor belauscht.
 
Chorleiter (flüsternd zu seinen Mitsängern): Ausgraben tun sie, es läuft alles wie geplant.
 
Sänger: Aber was reden die da?
 
Chorleiter: Egal. Hauptsache, sie sind beschäftigt.
 
VORHANG
 
                            ENDE